Für meine Wohnungssuche in Lille wende ich mich an eine flüchtige Partybekanntschaft, dabei werde ich von der Hilfsbereitschaft positiv überrascht. Aber kann sich daraus eine Freundschaft entwickeln? 

Meine Geschichte beginnt in der Kloschlange auf einer Hausparty tief im Berliner Südosten. „Oh wow, are all of you guys waiting for the toilet?“, fragt Sébastien, während er mich mit großen braunen Augen angrinst. Sein Englisch ist in den wohligen Klang eines französischen Akzents gehüllt. Lässig lehnt er an der hohen Flurwand der schönen Altbau-WG. Von Kopf bis Fuß ist er in Bordeauxrot gekleidet, eine Bauchtasche schlingt sich diagonal um seinen Oberkörper.

Wir kommen direkt ins Gespräch. Er erzählt mir, dass er zum ersten Mal in Berlin sei und dass er aus Frankreich komme. Wir wechseln von Englisch zu Französisch. Manchmal gibt es Menschen, bei denen man direkt merkt, dass man sich gut mit ihnen verstehen wird. Seb ist so jemand: Sein Lachen ist ansteckend, seine interessierte Art ist mir sofort sympathisch.

Ich möchte wissen, aus welcher Ecke in Frankreich er kommt. Er erzählt mir, dass er aus Nordfrankreich kommt. Ich bohre weiter nach: „Aber woher genau?“ „Aus Lille, kennst du das?“, fragt Seb ausdruckslos. „Mais Nooon“, entgegne ich etwas zu laut, „da ziehe ich in ein paar Monaten hin!“ Wir fläzen uns auf eine Couch und es entspinnt sich eine abendfüllende Unterhaltung über Lille, Politik und das Leben.

Als wir irgendwann aus der Wohnung stolpern, ist es draußen bereits hell. An der Warschauer Straße verabschieden wir uns herzlich. Bisou rechts, bisou links. Natürlich haben wir unser Instagram ausgetauscht. Während ich alleine mit der U1 über die Oberbaumbrücke fahre, fühle ich mich euphorisch und voller Vorfreude auf mein Auslandssemester. Wer hätte gedacht, dass ich meinem ersten Liller Freund bereits in Berlin begegne?

In Berlin wäre es vielleicht beim einmaligen Aufeinandertreffen geblieben. Eine schöne, flüchtige Bekanntschaft. Jemand, dem man einmal begegnet, aber danach nie wiedersieht – verflogen in der Geschwindigkeit und Größe dieser Stadt. Im beschaulichen Lille aber ticken die Uhren anders.

Wiedersehen in Lille

Monate später bin ich auf der Suche nach einer Wohnung und melde mich bei Seb. Ohne zu zögern, hört er sich für mich um und versorgt mich mit wertvollen Kontakten. Nach einer Woche fragt er nach, ob sich daraus nun etwas entwickelt hat. Von so viel Engagement und Verbindlichkeit bin ich beinahe überfordert. Wir kennen uns doch noch gar nicht richtig? Ehrlicherweise könnte ich nicht versprechen, für ihn dasselbe getan zu haben. Auch ich leite hin und wieder gerne mal eine Wohnungsanzeige weiter, aber so viel Hingabe bringe ich meistens nur für enge Freunde auf.

Bald darauf habe ich ein Zimmer in bester Wohnlage, nur drei Minuten von meiner Uni entfernt. Zwar finde ich die WG am Ende doch ohne Sebs Hilfe, sein Enthusiasmus hat trotzdem sicher nicht geschadet.

Die ersten Tage in Lille verbringe ich einsam. Umziehen nach Frankreich bedeutet auch erstmal in grellen, monströsen Hypermarchés Duschvorleger, Putzmittel und Bettzeug kaufen. Um dann alleine und vollbepackt mit der Métro nach Hause zu fahren. Kurz nachdem ich mein WG-Zimmer mit dem Nötigsten eingerichtet habe, schreibe ich Seb. Wir verabreden uns im Bistro Saint Sauveur — oder St So, wie es echte Lillois·es nennen. Ein alternativer Veranstaltungsort in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude, in dem heute regelmäßig Kulturveranstaltungen und Partys stattfinden.

Bei meiner Ankunft auf dem Bahnhofsgelände sehe ich Seb mit einem schwarzen Fischerhut, wie er umgarnt von seinen Freunden an einem langen Biertisch sitzt. Zehn neugierige Augenpaare strahlen mir entgegen. Ich grinse nervös zurück und quetsche mich dazu auf die Bierbank. Nur wenige Minuten nach der freundlichen Begrüßung plaudere ich entspannt und meine Nervosität scheint verflogen. Französischen Smalltalk kann ich! Und wenn mir doch mal die Vokabeln fehlen, dann streue ich englische Wörter ein.

Seine Freunde sind genauso lieb und offen wie er. Schon an meinem ersten Abend werde ich auf den Geburtstag eines Kumpels eingeladen. Als der Bahnhof schließt, streifen wir weiter durch die Nacht und die Freundesgruppe zeigt mir die einschlägigen Bars der Stadt. Wir bleiben bis spät und trinken Pastis. Irgendwann stranden wir in einem verruchten Technokeller. „Der Norden ist für seine ganz eigene Technokultur bekannt. Bestimmt ist es ein bisschen anders als in Berlin, aber vielleicht ist das trotzdem eine nette Gemeinsamkeit“, erklärt mir ein Freund, der aus der Region kommt.

Mit gebührenden Kopfschmerzen wache ich am nächsten Morgen auf und greife nach meinem Handy. Ich chatte mit Seb und wir werten gemeinsam den gestrigen Abend aus. Er schreibt: „Bienvenue à Lille, c’était une sacrée intégration“. Auf deutsch ungefähr: „Willkommen in Lille, das war eine verdammt starke Integration“. Und tatsächlich fühle ich mich ganz ausgezeichnet aufgenommen. Ein paar Tage später treffen wir uns gemeinsam auf dem Markt im Stadtteil Wazemmes. Dort schlemmen wir saftige Gözleme und trinken Bier.

Menschliche Wärme heißt « chaleur humaine »

Zwei Wochen später feiere ich in meiner chaotischen WG mit zwanzig Mitbewohnern meinen Geburtstag. Neben frischen Freunden aus der Uni und einem Schulfreund aus Deutschland kommt natürlich auch Seb mit seinen Freunden und einer gigantischen Box vorbei. Sie überreichen mir feierlich ein T-Shirt auf dem steht: „Verlier nicht deinen Norden“ und einen rot-blauen Schlüpfer vom OSC Lille. Spätestens ab diesem Moment fühle ich mich so richtig zuhause.

Während die Tage kürzer werden, bade ich hier in menschlicher Wärme. Vielleicht ist es gerade die Kälte draußen, die die Menschen hier näher zusammenrücken lässt. Irgendwas an diesem Ort scheint das Beste in den Menschen hervorzubringen – das unsägliche Wetter wird durch zwischenmenschliche Herzlichkeiten kompensiert.

Trotz der unwirtlichen Witterung hat diese Stadt etwas, das einlädt, zu verweilen. So lief es auch bei Sébastien. Vor sieben Jahren zog er nach Lille und blieb fürs Studium und später auch für seinen ersten Job. Was ich auf der Berliner Hausparty noch nicht ahnen konnte: Seb ist die französische Version des Hans Dampf in allen Gassen. Wenn ich mit ihm durch die Liller Straßen ziehe, habe ich das Gefühl, er kennt jeden und jeder kennt ihn.

Und doch wird er die Stadt nächsten Monat für eine Südamerikareise verlassen und nicht wieder zurückkehren. Danach gibt es für ihn zwei Optionen: Entweder nach Paris oder Berlin. Wenn ich an den Abschied denke, wird mein Herz schon ein bisschen schwer. Aber halb so wild wie er meint: „Mach dir keine Sorgen mon Loup, wir werden uns schon wieder sehen, da bin ich mir ganz sicher!“


Illustration: Lucia Maluga