Am 10. September gab es in Frankreich eine landesweite Mobilisierung gegen die aktuelle Regierung. Aber warum gehen dort so viele Menschen auf die Straße? Und wieso kracht es dabei so laut? Unser Autor war für uns auf der Demo in Lille.

Gemessen an der Größe des imposanten Rathausplatzes wirkt die Versammlung zu Beginn klein und unbedeutend. Rund um einen Lautsprecherwagen haben sich an die Tausend Menschen versammelt. Eine dichte, graue Wolkendecke hängt über dem prächtigen, gold verzierten Torbogen des Porte de Paris.

Auf der Suche nach meiner italienischen Kommilitonin bahne ich mir meinen Weg durch die losen Reihen der Demonstration. Mein Blick schweift über neonfarbene, selbstgebastelte Pappschilder, einen agitierenden Redner und Familien mit Kindern im Grundschulalter. Schließlich bleibt er am mir bekannten bunten Stirnband meiner Freundin Ludo hängen. Vorsichtig zwänge ich mich zu ihr in die erste Reihe durch und setze mich neben sie auf das Kopfsteinpflaster.

Eine ältere Dame in einem knallrosa glitzernden Blazer schnappt sich das Mikrofon. Mit bebender Stimme spricht sie über Studierende in Armut, die inzwischen am Essen sparen müssten. Danach stimmt sie ein selbstkomponiertes Lied an, über mehrere Minuten schrillt ihr etwas schiefer Gesang über den Platz. Wie viele andere Demonstrierenden kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen – am Ende erntet die Chanteuse für ihr Ständchen lautstarken Beifall.

Personalrochade im Hôtel de Matignon

Unter dem Titel „Lasst uns alles blockieren!“, war monatelang über die Sozialen Netzwerke für den 10. September mobilisiert worden. Landesweit finden heute Großdemonstrationen und Blockaden statt, über Instagram hatte auch ich davon erfahren. Der Protest richtet sich gegen die Austeritätspolitik, also die extreme Sparpolitik der Regierung. Alle Zeichen stehen auf Konfrontation.

Gleichwohl blicke ich, wohin ich auch schaue, in freudige Gesichter. Die gute Stimmung passt nicht so recht zum Anlass der Demo, denn die Bewegung fordert nichts Geringeres als den Rücktritt der aktuellen Regierung. Bereits vor dem 10. September ist Premierminister François Bayrou vor der Assemblée Nationale mit seiner Vertrauensfrage gescheitert. Goodbye Bayrou! Eine zentrale Forderung wurde damit bereits vorab erreicht. Ob die Demonstrierenden wohl deshalb so gut gelaunt sind? Durch Frankreich weht vielleicht der eisige Wind der Austerität, aber von der großen Konfrontation scheint hier zunächst keine Spur.

Doch noch bevor ich diesen Artikel in die Tastatur hauen konnte, ist auch Bayrous Nachfolger Sébastien Lecornu schon wieder gescheitert – nur um sogleich wieder ernannt zu werden. Der Stuhl des französischen Premierministers in seinem Amtssitz, dem Hôtel de Matignon, ist inzwischen heißer geworden als der Trainerposten des FC Bayern. Als wir wenig später aufstehen, um uns unseren Freund*innen im Demozug anzuschließen, blicken wir auf ein mächtiges Menschenmeer. Soweit das Auge reicht hat sich der Platz in der Zwischenzeit mit Protestierenden gefüllt.

« On est là, on est là ! Même si Macron ne veut pas, nous on est là ! »

„Wir sind hier, wir sind hier, auch wenn Macron es nicht will, sind wir hier!“, skandieren die Massen fröhlich. Nachdem wir den Gesang ein paar Mal gehört haben, stimmen wir zaghaft mit ein. Die Parole war vor sieben Jahren der wohl bekannteste Schlachtruf der Gelbwestenproteste.

Die Versammlung wirkt wie ein neuer Protest im alten Gewand. Spätestens seit der Rentenreform 2023 steckt Frankreich in einer tiefen politischen Krise, seitdem folgt eine Welle der Empörung auf die nächste. Kein Wunder also, dass sich die Demonstrierenden der bewährten Slogans bedienen, um ihrem Unmut gegenüber der Regierung Luft zu machen.

Einmal in Bewegung verläuft der Protest zunächst friedlich. Die Menschen singen, die Stimmung ist ausgelassen. Trotzdem haben viele Läden aus Angst vor Plünderungen ihre Rollläden heruntergelassen. Aus dem Schaufenster einer verschlossenen Luxusboutique blickt uns eine Mitarbeiterin verunsichert an.

Eine kleine Gruppe kichernder Kinder wirft mit Schaumstoffschwämmen auf ein Ladenfenster. Früh übt sich das Steinewerfen in Frankreich. Viele der Demonstrant*innen zücken belustigt ihr Handy, um das Schauspiel zu filmen. Kurz darauf laufen wir dann tatsächlich an der eingeworfenen Scheibe einer Immobilienagentur vorbei. Hier sind kurz vorher echte Steine geflogen.

Die Nonchalance, mit der die meisten Menschen das gesprungene Glas registrieren, ist erstaunlich. Im Vorbeischlendern scheinen viele die eingeworfene Scheibe, wenn überhaupt, nur unbeeindruckt wahrzunehmen, einige andere nicken im Vorbeigehen anerkennend.

Nach zwei Stunden verlasse ich den Protest, um mir etwas zu essen zu suchen. Ludo bleibt im Getümmel. Wenig später schreibt sie mir, wir sollten vorsichtig sein, wenn wir wieder zurückkämen. Der Anfang des Protestzugs sei gerade in Schwierigkeiten geraten.

Eskalation mit Ansage

Als ein Freund und ich nach einem süßen Pain Suisse wieder zurück zur Demo wollen, ist die Stimmung völlig gekippt. In einer rauchverhangenen Straße stinkt es beißend nach verbranntem Plastik. Auf dem Boden sieht man noch die Reste einer verbrannten Mülltonne. Eine traurige schwarze Pfütze.

Wahrscheinlich wäre jetzt ein ausgezeichneter Moment, um nach Hause zu gehen. Doch als ich über den Place de la République dorthin gelangen will, kommt mir eine Frau entgegen. „Da würde ich lieber nicht lang gehen. Wir wurden gerade ordentlich mit Tränengas eingesprayt“, meint sie schniefend.

Entgegen jeder Vernunft entscheiden wir uns trotzdem, einen Blick auf den Platz zu werfen. Wäre schon etwas schräg, gerade jetzt nach Hause zu gehen. Beim Anblick der grinsenden CRS-Beamten, von der französischen Bereitschaftspolizei, die in Kampfmontur die Seitenstraßen absperren, wird mir etwas mulmig.

Der gesamte Platz vor dem prunkvollen Palais des Beaux-Arts, auf dem die Demo aufgehört hat, ist von Polizist*innen und Wasserwerfern umstellt. Es halten sich nur noch wenige Menschen auf dem Platz auf. Auf einmal höre ich laute Aufschreie. Eine Demonstrantin wird von zwei Polizisten auf den Boden geschubst und getreten. Kurz darauf steht sie auf und läuft lädiert davon. Ich fühle mich schäbig, für diesen Anblick zum Platz zurückgekehrt zu sein.

Trautes Heim, Glück allein

Verstört sperre ich wenig später meine Haustür in der Nähe des Platzes auf und schlurfe die Treppe hoch. Wie zum Teufel konnte denn diese vermeintlich ruhige Demo derart eskalieren? Die Schwelle zur gewaltvollen Auseinandersetzung verläuft im Land der Revolution wohl deutlich niedriger, als ich es aus der braven Bundesrepublik kenne.

Hinter den freundlichen Gesichtern der Demonstrant*innen, so scheint es, brodelt eine enorme Wut und Unzufriedenheit. Wer den Redner*innen genau zuhört, der versteht, worum es ihnen geht: Um das letzte bisschen Sozialstaat, um den letzten Funken Würde, der vielen Menschen noch bleibt. Eine existentielle Verlustangst nährt ihren Frust, die Demonstration wird dann zum Ventil für den großen Groll der Protestierenden.

Letztlich sind die Menschen in Frankreich schlichtweg nicht bereit, den sozialen Kahlschlag ohne Weiteres hinzunehmen. Angekommen in meinem Zimmer erinnere ich mich an ein Banner eines weißhaarigen Mannes im besten Rentenalter. Kampfeslustig stand da in großen schwarzen Lettern: „Wer den Wind sät, wird den Sturm ernten!“


Fotos: Tobias Würtz