Frankreich erlebt ein politisches Kuriosum: Der neue Premierminister Sébastien Lecornu löst am 10. Oktober 2025 seinen Vorgänger Sébastien Lecornu ab. Was nach einer Schlagzeile des Satireportals The Onion klingt, ist Ausdruck der aktuellen politischen Krise Frankreichs. Die Studentin Léonore berichtet.

Borne, Attal, Bayrou, Barnier, Lecornu, Lecornu in Paris wechseln Premiers mitsamt Regierung zurzeit im Monatstakt. Nachdem Präsident Emmanuel Macron im Sommer des vergangenen Jahres Neuwahlen veranlasste, hat das Lager der Macronisten an Sitzen verloren. Seitdem ist die Suche nach Mehrheiten für Gesetzesvorhaben mühsamer denn je. Der Posten des Premiers ist zur Verschleißware geworden niemand scheint das Land noch dauerhaft regieren zu können. Besonders unversöhnlich stehen sich die verschiedenen politischen Lager in der Frage der Haushaltsführung gegenüber. Ein zentraler Konfliktpunkt ist dabei auch der Umgang mit der steigenden Staatsverschuldung.

In der französischen Gesellschaft regt sich Widerstand

Bereits zum ersten Amtsantritt Lecornus am 10. September tun hunderte Demonstrierende im Zuge der „Bloquons tout“-Bewegung („Alles blockieren“) ihren Frust mit landesweiten Straßenblockaden kund. Auch die 26-jährige Soziologie-Studentin Léonore war dabei.

„Ich habe es einfach satt“ – die ewige Instabilität, die wahrgenommene Ignoranz der politischen Führung. „Ich denke, es ist diese Mischung aus Müdigkeit, dem Gefühl, von der Regierung nicht gehört zu werden und der gleichzeitigen Verschärfung der Ungleichheit. Aber auch die Angst vor dem Erstarken der Rechtsextremen

Und dann wird Lecornu auch noch zum zweiten Mal zum Premierminister ernannt. „Am Anfang dachte ich, das sei ein Witz, erzählt Léonore. In ihr macht sich das Gefühl breit, dass die Regierung mitsamt des Staatspräsidenten nun endgültig die Realität verlassen hat. „Das ist surreal. Ich habe den Eindruck, dass man uns verarscht. Das ist ein Zirkus, was hier vor sich geht.

Bereits als 2023 die umstrittene Herabsetzung des Rentenalters auf 64 Jahre durchgesetzt wird, streiken und demonstrieren die französischen Bürger*innen in breiten Bündnissen. Die rege Protestkultur gehört im Land der Französischen Revolution zum Tagesgeschäft, ist in den vergangenen Jahren aber besonders ausgeprägt.

Die Rentenreform wird, wie so viele darauffolgende Projekte, mithilfe des Verfassungsartikels 49.3 durchgepeitscht. Er ermöglicht der Regierung, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden. Gerade diese Art des Durchregierens stößt in der französischen Gesellschaft auf viel Kritik und Unzufriedenheit.

Neben der Rentenreform sind staatliche Ausgaben im Sozialbereich grundsätzlich immer wieder Gegenstand von hitzigen Debatten und neuen Sparplänen. So provozierte auch der Vorstoß des damaligen Premiers François Bayrou zur Streichung von zwei gesetzlichen Feiertagen eine Welle der Entrüstung.

„Bayrou wollte zwei Feiertage und Hilfen für diejenigen Personen streichen, die am wenigsten haben – die Pflege benötigen. Besonders beschäftigt Léonore die ungleiche Verteilung der Lasten. „Und diese Ankündigungen kommen in einem Kontext, in dem die Reichen so reich wie nie zuvor sind und die Ungleichheit wächst.

„Auf jeden Fall nimmt die Unsicherheit unter Studierenden zu. Und ich glaube, dass man das auch um uns herum sieht. Das hat schon mit der Erhöhung der Strompreise angefangen. Sie sorgt sich aktuell besonders um diejenigen, die sowieso schon nur schwer über die Runden kommen. Aber auch die eigene Zukunft bereitet ihr Kopfzerbrechen: „Die Berufsfelder, in denen ich arbeiten kann, sind von staatlichen Geldern abhängig. Wenn also weniger Geld für öffentliche Dienstleistungen fließt, betrifft mich das direkt.

Zwischen Unregierbarkeit und Machtstreben

Doch nicht nur die umstrittene Rentenreform, angekündigte Sparpläne und die vermehrte Nutzung des 49.3 sorgen für Unmut im Nachbarland. Auch die Strategie Macrons, trotz einer fehlenden absoluten Mehrheit fortlaufend Premierminister*innen aus dem eigenen Lager zu ernennen und die Wahlsieger*innen des linken Blockes nicht mit einzubeziehen, sorgt für Unverständnis und Proteste.

Bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr gewann das linke Lager die meisten Stimmen. „Und trotzdem haben wir am Ende eine Regierung aus der Macronie und dem rechten Lager bekommen“. Léonore sieht darin vor allem ein Problem politischer Repräsentation.

Zugrunde liegt der aktuellen politischen Krise auch eine systemische Ebene. Da Kompromisse und Koalitionen im französischen politischen System unüblich und wenig beliebt sind, kommt es unter Abwesenheit klarer Mehrheiten schnell zu Stillstand und gesellschaftlichen Spannungen.

Noch dazu hat der Präsident im französischen System mehr Befugnisse als der Kanzler in Deutschland. Macron nutzt diese Macht, um sein politisches Projekt gegen alle Widerstände voranzutreiben. Widerstände, die mittlerweile auch in den eigenen Reihen sichtbarer werden. Und trotzdem schließt er einen Rücktritt vor dem offiziellen Ende der Amtszeit 2027 weiterhin kategorisch aus.

„Ich bin müde. Müde, weil Frankreich in einer Demokratiekrise steckt“. Léonore spricht damit den Frust an, der sich in der französischen Gesellschaft immer weiter anstaut. „Ich persönlich habe besonders Angst, dass die extreme Rechte 2027 an die Macht kommt“. Die Sorge, dass diese Demokratiemüdigkeit dem rechtsextremen Rassemblement National den Zugriff auf das Amt der Präsidentin ermöglicht, äußert die Studentin immer wieder.

Neue Kompromisse trotz altbekannter Probleme?

Sechs Tage nach Antritt der zweiten Amtszeit schlittert der neue alte Premier Lecornu nur knapp am Vertrauensentzug vorbei. Nur 18 Stimmen trennen ihn davon, sich als Premier mit der kürzesten Amtszeit der Fünften Republik selbst zu unterbieten. Hat das Versprechen Lecornus, den unpopulären Artikel 49.3 nicht mehr zu nutzen und die Rentenreform im nächsten Haushalt vorübergehend auszusetzen, das Land nun also aus der Krise gerettet?

Die Mehrheit der sozialdemokratischen Parti Socialiste sowie der rechtskonservativen Les Républicains wandte sich im neuesten Misstrauensvotum vom 16. Oktober nicht aktiv gegen Lecornu. Gleichzeitig mahnt der sozialdemokratische Abgeordnete Laurent Baumel im Parlament an, dass die Enthaltung bei der Abstimmung „auf keinen Fall ein Pakt der Nicht-Zensur“ darstelle. Dabei ist Lecornu auf die Unterstützung der Parti Socialiste besonders angewiesen.

Ob und wie Frankreich unter diesen Umständen in absehbarer Zukunft zu mehr politischer Stabilität findet, wird wohl auch an der Umsetzung der Kompromisse um die Rentenreform hängen. Außerdem wird sich jede kommende Regierung darauf einlassen müssen, ihre Vorhaben sozial verträglicher und politisch anschlussfähiger auszugestalten.

Inwiefern die politische Kultur sowie die systemischen Eigenheiten der Fünften Republik diesen Herausforderungen gewachsen sind, wird sich zeigen. Ob Lecornu dieses Mal mehr als ein paar Tage im Amt bleibt und ob die Macronie sich aus der ganz eigenen Krise retten kann, bleibt ebenso fraglich.

Studentin Léonore jedenfalls hat nach den letzten Entwicklungen deutliche Zweifel, was die Zukunft Frankreichs betrifft: „Ich würde sagen, dass es aktuell schwierig ist, optimistisch zu sein“. Und doch ist da ein Funken Hoffnung: „Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass man im Kollektiv etwas bewirken kann.“


Foto: Benjamin Dörfel