Obwohl wir dank Social Media so vernetzt sind wie nie zuvor, fühlen sich viele Menschen einsam. Beim Internationalen Literaturfestival diskutieren der Soziologe Janosch Schobin und der Autor Anton Weil, wie Einsamkeit entsteht, ob Männer stärker davon betroffen sind und warum der Kapitalismus das Gefühl der Isolation verstärkt.
Einsamkeit ist plötzlich überall: in den Zeitungen, auf Instagram oder TikTok, sogar in der Forschung. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar, wie sehr soziale Isolation belastet. Doch sind wir immer noch mitten in einer Epidemie der Einsamkeit? Und warum scheinen mit diesem Phänomen besonders Männer zu kämpfen? Beim Internationalen Literaturfestival Berlin diskutieren der Soziologe Janosch Schobin und der Autor Anton Weil auf dem Panel [Männliche] Einsamkeit, moderiert von Podcast-Host Elise Landschek, genau diese Fragen.
„Von einer Epidemie kann man eigentlich nicht sprechen“, sagt Schobin gleich zu Beginn. Er forscht seit Jahren zu Einsamkeit, Freundschaft und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Vor ihm auf dem Tisch steht seine jüngste Publikation „Zeiten der Einsamkeit“, in der er die Geschichten von einsamen Menschen aus aller Welt zusammengetragen hat. Und doch, betont er, fühlen sich gerade junge Menschen häufiger isoliert: „Die Jugend ist ohnehin eine Hochphase der Einsamkeit.“ Wer das Elternhaus verlässt, eine Ausbildung und dann den ersten Job beginnt, befinde sich andauernd in einer Phase des Wandels, in der sich auch das soziale Netzwerk verändert. Diese Phasen dauern immer länger an – und mit ihnen auch die Unsicherheiten im Beziehungsleben.
Dass das Thema gerade die junge Generation beschäftigt, zeigt sich schon vor der Bühne: Die meisten Gäste im Saal sind in ihren Zwanzigern oder Dreißigern. Frauen wie Männer scheinen sich für die #MaleLonelinessEpidemic zu interessieren, die im Netz gerade trendet.
Allein, aber nicht einsam?
Einsamkeit müsse ja nicht immer etwas Schlechtes bedeuten, hakt Landschek ein. Braucht man nicht auch mal Zeit für sich? Auf jeden Fall, meint Weil. Für ihn sei das auch eine Art von Selbstwertschätzung. „Erst wenn ich gut mit mir allein sein kann, fühle ich mich bereit, auch in andere Beziehungen zu treten.” Das muss auch Vito lernen, der Protagonist in Weils Debütroman „Super einsam“. Nach einer Trennung und dem Tod seiner Mutter versucht er, den Ursprung seiner Einsamkeit zu finden. Vito zieht rastlos durch die Stadt, sitzt in Kneipen, umgeben von Menschen – und fühlt sich trotzdem isoliert und haltlos. „Klar, in meinem Handy sind auch so viele Kontakte wie nie“, sagt Weil. „Aber wen rufe ich an, wenn es mir schlecht geht? Und wer fragt, wie es mir geht, wenn ich mich länger nicht melde?“
Vito verdrängt seine Einsamkeit, indem er sich von einem Date ins nächste stürzt. „Auf der einen Seite drängt ihn die Gesellschaft dazu, eine neue Beziehung zu beginnen. Auf der anderen ist er total verunsichert von der zerrütteten Beziehung seiner eigenen Eltern, von denen er nie gelernt hat, über Gefühle zu sprechen“, erklärt Weil. Diese emotionale Sprachlosigkeit ist laut Schobin kein Einzelfall. Frauen falle es tendenziell leichter, ihre Einsamkeit zuzugeben, während Männer ihre Emotionen herunterschlucken. „Oft wissen sie nicht, was sie mit ihren Gefühlen anfangen sollen, manche greifen stattdessen zur Bierflasche. Aber das ist natürlich keine Lösung.“
Gerade junge Männer seien besonders gefährdet. Schobin zufolge haben sie deutlich häufiger Suizidgedanken als gleichaltrige Frauen. Und auch im Alter sterben viele vereinsamt: Männer werden doppelt so oft vom Amt bestattet wie Frauen – weil niemand mehr da ist, um die Beerdigung zu organisieren. Oft handele es sich um geschiedene Männer, entfremdet von der Familie und Freunden. Die Einsamkeit ist nicht selten mit Scham verbunden: Die Männer ziehen sich immer weiter aus ihrem Sozialleben zurück und heuern für Familienfeiern lieber einen Escort an, als zuzugeben, dass sie keine Partnerin finden.
„Auch Männer leiden unter dem Patriarchat“, bekräftigt Weil. „Wir müssen weg von diesem Dominanz-Denken. Es kann doch nichts Gutes bedeuten, dass in unserer Gesellschaft Fürsorge in Kontrast zu Männlichkeit steht und dass es mit Scham verbunden ist, nach tiefen Beziehungen zu suchen.“ Durch den Kapitalismus und das damit verbundene Konkurrenzdenken werde diese Dynamik nur noch verstärkt.
Wenn der Konsum menschliche Nähe ersetzt
Auch Schobin sieht einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und dem Wirtschaftssystem. Zunächst, so erklärt er, dämpfe der Konsum die Einsamkeit. Doch langfristig fresse der Kapitalismus die Zeit und Energie für echte Beziehungen. „Ich habe das in Chile erlebt. Viele haben den Neoliberalismus anfangs als Befreiung empfunden – aber wenn du nur noch arbeitest, bleibt keine Zeit für Beziehungen.“ Schnell wird die neugewonnene Freiheit zur Last.
Selbst dafür bietet der Markt eine Lösung: KI-gestützte Chatbots, die einen künstlichen Ersatz für menschliche Beziehungen bieten. Die Nachfrage ist groß, meint Schobin, „aber wo führt das hin? Vor allem, wenn die KI immer netter, geduldiger und verlässlicher ist als echte Menschen?“ Weil nickt: „Ich hoffe, wir können da noch … links abbiegen.“ Das Publikum lacht mit.
Aber wie geht es jetzt weiter, will eine Zuschauerin wissen. Wie ermuntert man die Männer, neue und tiefe Kontakte zu knüpfen? An engen Freundschaften fehle es eigentlich nicht, antwortet Schobin. In Umfragen liegen die Geschlechter gleichauf. Trotzdem würden Männer häufiger angeben, dass sie niemanden haben, um wichtige persönliche Dinge zu besprechen. „Man braucht auch ein paar männliche Freunde, die einem mal cute und lieb schreiben“, sagt Weil. Oder neue Formen der Kommunikation, ergänzt Schobin: „Ich habe eigentlich kein Problem damit, wenn zwei Männer sich treffen, schweigen und das geil finden.“ Solange sich dabei eben niemand einsam fühlt.
Mehr Soziologie, weniger Literatur
Wer eigentlich gemeint ist mit „Männern“, das wird im Verlauf des Gesprächs nicht aufgeschlüsselt. Die vielen binären Vergleiche zwischen zwei Geschlechtern suggerieren jedoch, dass vor allem vom Hetero-Cis-Mann die Rede ist. Weil betont immerhin, dass sein Protagonist nicht nur Frauen datet, „Auch Männer!“, unterbricht er Schobin. Darüber hinaus werden die Realitäten von queeren, nicht-binären oder Trans-Menschen, die ja eigentlich als besonders gefährdet gelten, wenn es um soziale Isolation geht, weitgehend ausgeklammert.
Dafür, dass das Panel im Rahmen eines Literaturfestivals stattfindet, kommt auch der Roman eher kurz. Den Ton des Abends gibt vor allem Schobin an, der mit seiner Expertise das Gespräch trägt. Unterhaltsam und lehrreich sind die Anekdoten aus der Forschung allemal, auch wenn „Super Einsam“ dadurch im Hintergrund bleibt. Als Moderatorin Landschek fragt, ob Weil noch etwas ergänzen wolle, winkt er schmunzelnd ab: „Ach, ich höre gerade auch ganz gern zu.“ Ein Eindruck, den auch das Publikum zu teilen scheint.
Foto: internationales literaturfestival berlin 2025, PWS e.V., Bernhard Ludewig.