Der Begriff der Enttäuschung ist gemeinhin negativ konnotiert. Niemand will mit seinem Verhalten gerne andere enttäuschen – schon gar nicht die eigenen Eltern. Aber steckt in der Enttäuschung nicht auch etwas Befreiendes?

Mit 15 Jahren träumte ich davon, die Schule abzubrechen, nach Berlin zu ziehen und Friseur zu werden. Inspiriert von den schnelllebigen Frisurentrends erfolgreicher Fußballspieler und von der Fernsehsendung „Waschen, Schneiden, Reden“ auf EinsPlus schnitt ich dilettantisch, aber glücklich die Haare meiner Freunde.

 Leider wurde aus meinen großen Plänen erstmal nichts. Zu laut und vernünftig war damals die Stimme meiner Eltern, zu groß meine Angst, sie zu enttäuschen. Während sich meine beruflichen Pläne über die Jahre änderten, blieb die Sehnsucht nach der Hauptstadt. Als ich mein Elternhaus nach dem Abitur verließ, um endlich nach Berlin zu ziehen, beschäftigte mich noch immer die Sorge, den Unmut meiner Eltern auf mich zu ziehen.

 Obwohl die Angst vor der elterlichen Enttäuschung ein weitverbreitetes Gefühl ist, wird sie nur allzu selten thematisiert. Es scheint, als würden die meisten am liebsten reibungslos die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen. Wer wiederum den Mut aufbringt, die Erwartungen seiner Eltern zu enttäuschen, der gewinnt im Gegenzug etwas Kostbareres: ein selbstbestimmtes Leben in eigener Verantwortung.

 Der trügerische Schein der Harmonie

 Eine harmonische Bindung zwischen Eltern und Kind – wer wäre dagegen? Der Wunsch nach Nähe und Harmonie prägt viele familiäre Beziehungen, besonders die zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern. Oft wird davon ausgegangen, dass Einigkeit gleichbedeutend sei mit einer glücklichen und gelungenen Beziehung.

Allerdings basiert diese Vorstellung auf einem Missverständnis. Dauerhafte Zustimmung erzeugt nur selten eine wirkliche Verbundenheit. Sie kann im Gegenteil sogar dazu führen, dass wichtige Themen unausgesprochen bleiben und die Konturen der eigenen Positionen verwischen. Eine gleichwertige Beziehung entsteht nämlich erst dann, wenn sich Eltern und Kinder gegenseitig klar orientieren – das wusste schon der bekannte dänische Familientherapeut Jesper Juul. Konflikte sind demnach kein Zeichen von Entfremdung, sondern vielmehr Ausdruck einer fortschreitenden Emanzipation.

Auch wenn die Enttäuschung zunächst schmerzhaft erscheint, so birgt sie doch eine wichtige Chance. Sie bringt unausgesprochene Erwartungen ans Licht und ermöglicht einen ehrlichen Austausch. Eltern und Kinder begegnen sich in diesen Momenten auf Augenhöhe. Dabei entsteht zumeist eine reifere, erwachsene Beziehung.

Mut zur Enttäuschung als Ausdruck von Verbundenheit

Sich gegenseitig mit der eigenen Wahrheit zu konfrontieren ist ein Zeichen dafür, dass die Beziehung einem etwas bedeutet. Wer den Mut aufbringt, für seine Träume einzustehen, geht damit natürlich auch das Risiko ein, Erwartungen zu enttäuschen. Dieser Schritt ist aber wichtig, denn er beendet eine Illusion. Dabei schafft er gleichzeitig die Grundlage für eine Beziehung, die auf Ehrlichkeit statt auf Erwartungen beruht.

Mein Umzug nach Berlin war für mich eng mit der Sorge verbunden, meine Eltern zu enttäuschen. Besonders der Abbruch meines Studiums in München bedeutete auch einen Bruch mit den Erwartungen meiner Eltern. Allerdings konnte ich mir vor meinem Umzug nicht vorstellen, dass sich die bis dahin klare Position meiner Eltern verändern kann. Heute weiß ich: Meine Eltern wären genauso stolz auf mich, hätte ich mich nicht für die Soziologie, sondern für den Friseurberuf entschieden. Naja, was nicht ist, kann ja noch werden.


Illustration: Margarita Haas