Mut heißt auch, einfach weiterzumachen und Widerständen, den eigenen Zweifeln und doofen Fragen zu trotzen. Bei Student*innen der Geisteswissenschaften gehört das quasi zu den Studienvoraussetzungen. Ein kleiner Toast auf alle, die trotzdem weiter studieren.   

„Wie die Studenten“, das hat mein Vater oft gesagt, wenn wir Pizza selbst gemacht und dann ohne Teller direkt von der großen Holzplatte in der Mitte des Tisches gegessen haben. „Wie die Studenten“ hieß auch, dass wir die Pizza mit den Händen aßen und in besonders große Stücke schnitten. Denn dieser Ausspruch bedeutete, sich ein bisschen mehr Freiheit herauszunehmen als sonst. Heute, zwanzig Jahre später, studiere ich, genau wie mein Vater, eine Geisteswissenschaft. Zwar muss ich mir von ihm keine Fragen wie „und was machst du dann damit?“ anhören, doch hat sich der Studienalltag, verglichen mit dem der 80er Jahre in West-Berlin, verändert. Was mein Vater noch als große Freiheit kennengelernt hat, ist für mich nur noch ein leichtes Schimmern am Horizont. Denn „Frei“ oder „wie ein Student“ fühle ich mich nicht mehr oft. Zwischen Teilzeitjob und Uni bleibt gar nicht so viel Zeit übrig, in der das Gefühl von freier Entfaltung entstehen kann, vor allem nicht kurz vor dem Abschluss. 

Selbstverständlich ist es ein großes Privileg, in Berlin an einer sogenannten Elite-Uni zu studieren. Leider verringert aber das Bewusstsein über dieses Privileg die Belastungen eines Studiums nicht. Laut der regelmäßig erhobenen „best3“-Studie des deutschen Studierendenwerks (DSW) von 2023 geben 30.000 von 188.000 befragten Student*innen aus Deutschland an, dass sie unter einer studienerschwerenden gesundheitlichen Beeinträchtigung leiden. Davon geben 65 Prozent psychische Erkrankungen an. Weiter gaben rund ein Drittel von diesen 65 Prozent an, dass die psychischen Beschwerden während des Studiums auftraten. 15 Prozent davon spielen außerdem mit Abbruchsgedanken. Das DSW betont in seinem Bericht über die Studie, dass Hochschulen nicht auf einen Anstieg von psychischen Erkrankungen vorbereitet sind. Es gibt viel zu wenig Hilfsangebote. Kaum verwunderlich also, dass die meisten Student*innen mit hoher psychischer Belastung darüber nachdenken, das Studium abzubrechen. Die Daten sind jedoch nicht repräsentativ. Im Wintersemester 2024/25 waren etwa 2,87 Millionen Student*innen an deutschen Hochschulen immatrikuliert. Die Menge der befragten Student*innen bildet also nur ein Bruchteil der eingeschriebenen Personen ab, zeigt aber deutlich auf, dass psychische Belastung durch das Studium ein ernstzunehmendes Problem ist.  

Dass das Studium ein Grund für eine gesundheitliche studienerschwerende Beeinträchtigung darstellt, ist ziemlich ironisch, macht jedoch Abbruchsgedanken sehr nachvollziehbar. Warum sollte ich etwas machen, was mich permanent belastet? Bei einem Fach mit hohem Lernaufwand wie Medizin oder Jura liegt dieser Zusammenhang auf der Hand. Über den Arbeitsaufwand oder die Belastung eines geisteswissenschaftlichen Faches wird dagegen oft geschmunzelt. Dabei ist ein hohes Maß an Organisation nötig, um so ein Studienfach zu bewältigen. 

Ein geisteswissenschaftliches Fach bringt in der Ausführung zwar sehr viel Freiheit mit sich, anders als in naturwissenschaftlichen Fächern, bedarf es aber einem großen Maß an Selbstorganisation. Kein fester Stundenplan, kein vorgegebener Plan, wann welche Module studiert werden müssen, Semesterferien sind in vielen Fächern für die Hausarbeiten vorgesehen und die Vorbereitung für Seminare und Vorlesungen kann schnell bei 60 bis 100 Seiten Fachtext pro Woche liegen. Für Prüfungen muss man sich selbst anmelden. Ein „freies“ Studium zu organisieren erfordert also nicht nur viel Selbstverantwortung, sondern auch Disziplin. Und damit stehen geisteswissenschaftliche Fächer den Natur- und Ingenieurwissenschaften in Punkto Zeit- und Arbeitsaufwand in nichts nach. 

Auch Vorurteile über Zukunftsperspektiven können an der Studienmotivation nagen. Dabei ist die Freiheit, etwas zu studieren, das dem Selbstzweck des eigenen Interesses dient, nicht gleichbedeutend mit „keinen Plan für die Zukunft haben“. Bei vielen Jobs, die mit einem Abschluss in einem geisteswissenschaftlichen Fach ausgeübt werden können, kommt es eher darauf an, ob und welchen Abschluss eine Person hat und nicht so sehr, ob es nun Philosophie oder Literaturwissenschaften ist. Ein Uni-Abschluss, und zwar egal welcher, bedeutet auch hier mehr Geld. Denn auch, wenn es für viele Menschen, die noch nie Foucault lesen mussten, unvorstellbar ist: Auch mit einem Bachelor in Kulturwissenschaft arbeitet kaum ein*e Absolvent*in auf Mindestlohn-Basis. 

Geisteswissenschaften zu studieren ist eine Entscheidung für einen Lebensstil und weniger eine Entscheidung für einen Gesellschaftsentwurf, in dem sich das Leben um die Arbeit dreht. Privates Interesse und Lohnarbeit zu vereinen ist ein Privileg, das oft als erstrebenswert dargestellt wird. Dabei ist es sehr unwahrscheinlich, dass alle Menschen, die ein Studienfach abgeschlossen haben, auch eine Stelle finden, die genau auf das persönliche Interesse ausgelegt ist. Es ist weder ausschließlich einer Fachrichtung vorbehalten noch irgendwem garantiert. Darum ist es sehr unwahrscheinlich, dass alle Menschen, die ein geisteswissenschaftliches Fach abgeschlossen haben, davon ausgenommen oder besonders betroffen sind. Wahrscheinlich ist jedoch, dass Geisteswissenschaftler*innen einen Job nach dem Studium finden. Es ist nur vielleicht kein Job, den das Studium vermuten lässt. Das ist eine sehr unbefriedigende Antwort auf Fragen nach Zukunftsplänen.

Zu dieser allgegenwärtigen Unsicherheit kommen Fragen zur generellen Relevanz des Studiums („ach, das kann man also studieren?“), hartnäckige Vorurteile (alle Philosoph*innen fahren Taxi) bis hin zu elterlichen Sorgen, das Kind solle doch etwas „Richtiges“ machen. So oder so ähnlich haben es wahrscheinlich alle Geisteswissenschaftsstudent*innen schon mal gehört. Doch auch wenn Sorgen und Spott eigentlich nur von Desinteresse und fehlender Empathie des Gegenüber zeugen, zeigt die genannte Studie, wie sich das jahrelange Ausgesetztsein von Fragen wie „und was willst du dann werden?“ auswirken kann. Denn natürlich kommen diese Fragen nicht nur von anderen. Geisteswissenschaftler*innen können wahrscheinlich ein ganzes Seminar über Selbstzweifel, inklusive theoretischem Unterbau, aus dem Stegreif halten. 

Eine gewisse Offenheit, was die Zukunft bringen wird, ist also Studienvoraussetzung –  und das erfordert Mut. Gerade in einer Welt, die sich um Zahlen dreht, in einer Gesellschaft, die sich auf Sicherheit versteift hat und keine Lücken im Lebenslauf vorsieht, ist es mutig, sich für das Gegenteil zu entscheiden und eine Offenheit zu bewahren, die nicht viele Menschen aushalten.

Letztendlich liegt der Mut, ein geisteswissenschaftliches Fach zu studieren, darin, dem Normen- und Wertesystem einer kapitalistischen Gesellschaft wenigstens ein bisschen zu trotzen. Weniger der klassischen Sicherheit entgegenzufiebern, als sich auf sich selbst zu verlassen. Mut, auch mal über den Tellerrand des eigenen Studiums hinaus zu denken, da nicht schon im ersten Semester klar ist, wo es endet. Eben der Mut, die eigene Freiheit zu bewahren.


Foto: Irfan Syahmi.