
Bei der Veranstaltung „Schreiben nach dem 07. Oktober“ auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin sprechen israelische Autor*innen über Trauma, Identität und politische Verantwortung nach dem Angriff der Hamas auf das Nova Festival. Während die persönlichen und literarischen Perspektiven bewegend und kritisch sind, bleibt die Frage nach palästinensischen Stimmen offen.
Ein schmaler, dunkler Raum, gefüllt mit aufgestellten Stuhlreihen – schätzungsweise 150 Plätze. Ganz vorne ist die Bühne mit nur einem Tisch und vier Stühlen gedeckt. Der Saal ist knapp zur Hälfte gefüllt. Rauschen und Geflüster ist nicht zu hören. Die Anspannung ist deutlich wahrzunehmen. Lediglich die Stimmen der Mitarbeiter*innen erfüllen den Raum: „Können Sie bitte in den Reihen aufrücken, damit alle Gäste reinpassen? Die Veranstaltung ist ausgebucht!“
Die Reihen werden voller, bis sich plötzlich das Licht verdunkelt. Was bleibt, sind seichte, auf die Bühne ausgerichtete Scheinwerferstrahlen. Lavinia Frey, die Direktorin des Festivals, betritt die Bühne, begrüßt das Publikum und leitet die Veranstaltung „Schreiben nach dem 07. Oktober“ ein. Sie erzählt, dass die Idee aus einem Gespräch mit der künstlerischen Leiterin des Jerusalem International Writers Festival, Julia F. Tzaisler, entstanden sei. Tzaisler ist sowohl Autorin als auch Rednerin der heutigen Veranstaltung. Gemeinsam mit der Autorin Ayelet Gundar-Goshen, dem Autor Yaniv Iczkovits sowie der Moderatorin Shelly Kupferberg betritt sie die Bühne.
Alle Autor*innen leben in Israel und kamen nach Berlin, um beim ilb zu sprechen. Julia F. Tzaisler erklärte, dass es ihr Unbehagen bereite, Israel zu verlassen. Yaniv Iczkovits stimmte dem zu und kommentierte, dass er es eigentlich liebe, Israel zu verlassen – doch dass es nun nicht mehr so einfach sei. Die prekäre Situation sorge für unklare Zukunftsaussichten, beispielsweise durch wiederkehrende Reisesperren.
Literarische Stimmen aus Israel
Die Autor*innen erinnerten an den schrecklichen Anschlag und Überfall der Hamas auf das Nova Festival am 07. Oktober 2023. Eine traumatische Situation für die Gefangenen und Überlebenden, aber auch für die Menschen, die den von der Hamas livegestreamten Überfall sahen. Diese Bilder würden vermutlich für immer in den Köpfen der Menschen eingebrannt bleiben, erzählt Ayelet Gundar-Goshen. Zu dieser Zeit arbeitete sie in einem Traumazentrum als Psychotherapeutin. Erstmals in ihrem Leben kam es zu einer Notsituation in der Anlaufstelle. Es gab nicht genügend Personal, um alle Menschen zu betreuen, die durch den Anschlag traumatisiert wurden. Zudem hätte sie nicht auf ihre gewohnten Methoden zur Traumabewältigung zurückgreifen können, da diese plötzlich wirkungslos waren. Sie erklärte, dass eine der grundlegendsten Techniken ein einfacher Satz sei: „Du bist sicher. Es ist jetzt vorbei.“ Doch sie konnte den Menschen nicht sagen, dass es vorbei sei, denn die Zukunft war zu diesem Zeitpunkt ungewiss und die Sorgen groß. In gewisser Weise gilt das auch heute noch. Denn selbst wenn der Krieg vorbei, und die Geiseln befreit und zurück in Israel seien, gäbe es keine Rückkehr zu dem Zustand vor dem 07. Oktober, erklärt Tzaisler.
Nach dem Überfall war sie wie gelähmt und konnte nicht mehr schreiben – es schien ihr unmoralisch. Stattdessen setzte sie sich mit Fragen auseinander: Wer bin ich, und was bedeutet meine Identität? Diese Fragen müssen sich viele israelische Bürger*innen stellen. Niemand möchte durch sein Trauma definiert werden, nicht nur Überlebender sein, was historisch oft das Schicksal jüdischer Lebensrealitäten war und ist. Gleichzeitig muss sich Israel als Staat mit Identitätsfragen auseinandersetzen. Israels Anerkennung ist durch ihr grausames Vorgehen international in Verruf geraten. Ob und wie sie sich als Staat wieder etablieren wollen, könnte eins der ersten Anliegen sein, sollte sich die Lage durch das Gaza-Abkommen beruhigen.
Yaniv Iczkovits betonte die bedrückende und besorgniserregende Situation, tagtäglich in Israel zu leben, stets unter der Angst vor Angriffen und Gewalt. Anhaltende Angst ist ein schreckliches Gefühl und kann starke Einflüsse auf die Psyche haben. Berechtigte Angst, da der Überfall der Hamas am 07. Oktober für Terror, Schrecken, Tod und Trauma in Israel sorgte. Iczkovits betont seine Angst, während Palästinenser*innen täglich Gewalt erleben.
Das Panel kritisierte die Politik der israelischen Regierung und bezeichnete deren Kurs als extrem rechts. Laut einer im September veröffentlichten Studie des Israel Democracy Institutes sprechen sich rund 64 Prozent der israelischen Bevölkerung für ein Ende des Kriegs und Konsequenzen für Netanyahu aus. Alle Sprecher*innen demonstrieren wöchentlich gegen die Regierung, während die Polizeigewalt, ähnlich wie in Deutschland, immer weiter steigt. Der geforderte Regierungswechsel soll ein klares Zeichen für einen Kurswechsel sein. Ayelet kritisierte Netanyahu und bemerkte, dass in Gesprächen über Zukunftsperspektiven des Genozids nicht mehr über Frieden gesprochen werde, sondern ausschließlich über Agreements und Settlements – eine Aussage, die sie als Ausdruck seiner ‚außerordentlichen Leistung‘ bezeichnete.
Intervention und Kurswechsel
Während der Gespräche zwischen Moderatorin und Redner*innen hörte das Publikum gespannt zu. Die letzte halbe Stunde der 90-minütigen Veranstaltung war offen für Fragen.
Dies war ein Kipppunkt, da es mit den Fragen erstmals zu einer tatsächlichen Diskussionen kam. Eine Person aus dem Publikum machte darauf aufmerksam, dass während der bislang 60-Minütigen Veranstaltung kein einziges Mal die Besatzung oder der Genozid erwähnt wurden. Ayelet ging auf die Vorwürfe ein und kritisierte die Besatzung, dachte jedoch nicht, dass es konkret nötig sei, sich dagegen auszusprechen, da es so offensichtlich sei. Julia F. Tzaisler wich den Anschuldigungen aus dem Publikum aus, da sie sich nicht solch einem „Begriffs-Business“ fügen wolle. Sie empfinde es als unfair, wenn sie nur Anerkennung und Gehör finde, sofern sie bestimmte Begrifflichkeiten verwende. Doch auch in anderen Worten äußerte sie sich nicht zu dem Leid und Töten der Palästinenser*innen, der Zerstörung von Stadt und Land, worauf die Anmerkung aus dem Publikum eigentlich abzielte. Iczkovits antwortete, indem er über seine Ablehnung des Militärdienstes erzählte, weshalb er einen Monat im Militärgefängnis verbringen musste. Mit der Verweigerung zahlte er einen hohen persönlichen Preis – ebenso wie viele andere Israelis. Personen, die den verpflichtenden Wehrdienst verweigern, werden in Israel als Refuseniks bezeichnet. Die Konsequenzen sind zweiteilig: Wie bei Iczkovits werden einige der Refuseniks nach einem Monat im Gefängnis vom Militärdienst ausgenommen, andere müssen öfter und länger ins Gefängnis. Doch die Verweigerung führt auch zu sozialer Ächtung in der israelischen Gesellschaft. Die Anzahl der öffentlichen Refuseniks seit dem 07. Oktober 2023 liegt bei 16. Doch die Menge an anonymen Verweigerern aus medizinischen und psychischen Gründen stieg rapide, erklärt Ella Greenberg im Interview mit Die Chefredaktion.
Wo noch geträumt werden darf
Moderatorin Kupferberg fragte das Panel, wie der Traum der Zukunft aussehen würde, worauf alle mit einer Zweistaatenlösung antworteten. Einem Ort, an dem in beiden Staaten Menschen unterschiedlicher Ethnien und Nationalitäten als Minderheiten leben können. Hierbei ist interessant, dass sich die Sprecher*innen einig sind, dass selbst in der Traumvorstellung Grenzen zwischen den Menschen bestehen und kein gemeinsames Land, das durch geteilte und fluide Werte und Perspektiven geprägt ist. Iczkovits fügte hinzu, dass seine pessimistische Traumvorstellung „minor violences“ beinhalten würde. Was auch immer eine pessimistische Traumvorstellung sein soll und was hinter „minor violences“ steckt. Er betont, dass ein zentrales Problem das gewaltige Fehlen von Vertrauen auf beiden Seiten sei. Julia reflektierte, dass die Frage nach Träumen häufig einseitig sei und palästinensische Stimmen nicht miteinbeziehe. Das ist richtig, insbesondere in diesem Raum. Denn während die Sprecher*innen über die Zukunft träumen dürfen, gibt es Hunderttausende Palästinenserinnen, die um ihr Überleben kämpfen müssen.
Die UnAuf fragte beim ilb an, warum keine palästinensischen Stimmen vertreten waren bei einem Thema wie „Schreiben nach dem 07. Oktober“ – einem Massaker, das nicht getrennt vom historischen Kontext und den darauf folgenden Konsequenzen gesehen werden kann. Das Internationale Literaturfestival beschreibt sich selbst als „lebendiges Forum kulturellen Austauschs und politischer Diskurse“. Das Festival verpflichtet sich den Werten der Multiperspektivität, des Dialogs und der Gastfreundschaft, so die Pressesprecherin Dorothea Bering. Diese Werte würden sich im Programm des diesjährigen ilb sowie in den vergangenen Jahren zeigen. Viele Autor*innen aus unterschiedlichsten Ländern der Welt seien präsent, erzählen ihre Geschichten und teilen ihre einzigartigen Perspektiven, darunter die palästinensischen Autorinnen Asmaa Azazeh und Isabella Hammad.
Bering erklärt, dass Gastfreundschaft auch beinhaltet, den Mitwirkenden, Teilnehmenden sowie Autor*innen und ihrem Werk den gebührenden Raum zu geben. Bei einer Veranstaltung, die sich nicht explizit auf Bücher von Autor*innen bezieht und ein komplexes Thema aufgreift, ist es jedoch fraglich, ob die Nicht-Präsenz palästinensischer Stimmen in diesem Kontext die Werte von Multiperspektivität und kulturellem Austausch widerspiegelt. Es ließe sich behaupten, diese einseitige Auswahl untergräbt den Anspruch des Dialogs, der sonst den Werten des ilb entspricht. Was bleibt, ist die Ambivalenz: Worte können Trauer und Angst spiegeln, Hoffnung entwerfen – doch sie können nicht die Stimmen ersetzen, die fehlen. Gerade in einem so komplexen Konflikt zeigt sich, wie wichtig es ist, alle Perspektiven sichtbar zu machen.
Foto: internationales literaturfestival berlin 2025, PWS e.V., Charlotte Kunstmann.