Im August 1995 eroberten kroatische Truppen die serbisch regierte Republika Krajina. Etwa 200.000 Serb*innen flohen oder wurden vertrieben. Das Gedenken in Serbien an die Geschehnisse wurde auch dieses Jahr nationalistisch vereinnahmt.

Schon bei der Ankunft mit dem Zug fallen unzählige Reisebusse auf, die aus allen Teilen Serbiens und der Republika Srpska Anhänger*innen des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić nach Sremski Karlovci bringen. In der Kleinstadt an der Donau nahe Novi Sad findet dieses Jahr die offizielle Gedenkveranstaltung zur Operation Oluja statt. Die Operation Oluja war eine Offensive der kroatischen Armee Anfang August 1995, bei der sie große Teile der 1991 errichteten Republika Srpska Krajina, ein von Serb*innen kontrollierter De-Facto-Staat in Kroatien, einschließlich der Hauptstadt Knin zurückeroberte. Während die Operation Oluja in Kroatien als Akt der Befreiung gefeiert wird, gilt sie in Serbien als ethnische Säuberung.

Die Veranstaltung gibt also nicht nur einen Einblick in die nach wie vor bestehende Anhängerschaft Vučićs, sondern auch in die Erinnerungskultur Serbiens. Die Opposition ruft dieses Jahr zum Boykott der Veranstaltung auf, dem sich auch die Gemeindevertretung von Sremski Karlovci anschließt. Stattdessen hat sie für den darauffolgenden Abend eine eigene Gedenkkundgebung in Novi Sad organisiert. Nach Meinung der Protestierenden werden die meisten Teilnehmer*innen der offiziellen Veranstaltung von der Regierungspartei SNS oder staatseigenen Unternehmen bezahlt. Überprüfen lassen sich die Vorwürfe für die UnAuf nicht.

Die Regierungsveranstaltung trug dieses Jahr den Titel „Oluja je pogrom“. Oluja ist ein Pogrom auf deutsch. Dieser Titel gibt die geschichtsrevisionistische Schlagseite der Veranstaltung vor, was nicht heißt, dass es keine Kriegsverbrechen von kroatischer Seite an der serbischen Bevölkerung der Krajina gab. Nach Angaben der kroatischen Menschenrechtsorganisation Documenta sind mehr als 200.000 Serb*innen durch die Operation Oluja gewaltsam vertrieben worden. Etwa 1000 Menschen wurden ermordet. An Flucht und Vertreibung der Krajina-Serb*innen vor 30 Jahren zu erinnern, ist ein legitimes erinnerungskulturelles Anliegen. Das Problem dieser Veranstaltung ist, dass so getan wird, als hätte es in den dreieinhalb Jahren zuvor, in denen die Republika Krajina bestand, keine Verbrechen an der kroatischen Bevölkerung gegeben. Historiker*innen gehen davon aus, dass mehr als 170.000 Kroat*innen nach der Etablierung der Republika Krajina aus dem Gebiet vertrieben wurden. Die Journalisten Krsto Lazarević und Danijel Majić haben diese, im postjugoslawischen Raum weit verbreiteten Geschichtsmythen und revisionistischen Auslassungen, in einer Folge des Podcasts Neues vom Balla-Balla Balkan unter der polemischen Überschrift „Alles Faschos außer wir“ zusammengefasst.  

Sobald wir aus dem Zug aussteigen, fängt es an zu regnen und wir suchen, wie viele andere, unter dem Dach der örtlichen Tankstelle Schutz. Da wir auf den Niederschlag nicht vorbereitet sind, nutzen wir die Gelegenheit, Müllsäcke zu kaufen, die sich zu Regencapes umfunktionieren lassen. Im Gedränge an der Kasse, die Tankstelle gleicht inzwischen einer Sauna, fällt den, teils in serbische Fahnen gehüllten, Nationalist*innen auf, dass wir aufgrund unseres studentischen Aussehens und fehlender Sprachkenntnis nicht auf die Veranstaltung passen. Das führt dazu, dass wir böse Blicke und in einem Fall einen hämischen Kommentar eines umstehenden, breitschultrigen Veranstaltungsbesuchers ernten. 

Der Gedenkgottesdienst wird von Patriarch Porfirije, dem Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, gefeiert. Porfirije hat sich in den Jahren nach seiner Ernennung 2021 stets loyal gegenüber der Regierung gezeigt und bei einem Besuch in Moskau bei Patriarch Kyrill in Bezug auf die Studierendenproteste davon gesprochen, dass die Proteste aus dem Ausland gesteuert seien. 

Indes strömen immer mehr Menschen auf das Veranstaltungsgelände, so dass nicht alle Besucher*innen auf den Platz vor der Bühne passen und sich im angrenzenden Park vor den dort aufgestellten Leinwänden und Lautsprechern positionieren, wo der Regen zum Glück nachgelassen hat. Auf den Gottesdienst folgen Berichte von Zeitzeug*innen und Bilder von Verstorbenen und den Häusern, aus denen sie vor 30 Jahren vertrieben wurden. Dabei bezeichnen sie die kroatischen Eroberer konsequent als „hrvatske ustaše“, kroatische Ustascha auf deutsch, in Anlehnung an kroatische Faschisten, die während des Zweiten Weltkriegs Hunderttausende Serb*innen in Todeslagern wie Jasenovac ermordeten. Zwar gab es in Kroatien während der Jugoslawienkriege paramilitärische Einheiten, die sich in Ideologie und Auftreten in die Tradition der Ustascha stellten, solch eine Verallgemeinerung, wie sie in Sremski Karlovci präsentiert wird, entbehrt aber jeglicher historischer Grundlage. 

Inzwischen stehen immer mehr Menschen auf dem Veranstaltungsgelände. Vor der Bühne stehen die Besucher*innen so gequetscht, dass niemand mehr vorbeikommt, dennoch drängen immer mehr Besucher*innen auf den Platz. Die Ordner*innen wirken mit der Situation überfordert und es gelingt ihnen nicht, die Menschenmassen zu entzerren. Pünktlich zur Rede von Milorad Dodik beginnt es erneut in Strömen zu regnen. Dodik ist Präsident der Republika Srpska, der serbisch dominierten Teilrepublik innerhalb Bosnien-Herzegowinas, die etwa die Hälfte des Staatsgebiets umfasst. Zwei Tage zuvor wurde Dodik vom Obersten Gericht Bosnien-Herzegowinas zu einem Jahr Gefängnis und einem sechsjährigen Verbot politischer Betätigung verurteilt, weil er sich über Anordnungen des von den UN ernannten Hohen Repräsentanten, hinweggesetzt hatte. Dodik leugnet den Genozid von Srebrenica im Juli 1995, bei dem bosnisch-serbische Truppen etwa 8000 Bosniak*innen ermordeten.

Bevor wir weiter zusammengedrückt werden, bahnen wir uns den Weg, weg von der Bühne in den benachbarten Park, von wo aus wir die Rede des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić verfolgen. Bevor Vučić zu reden beginnt, erschallen laute „Kosovo je Srbija“-Sprechchöre. Die Frage, ob Kosovo zu Serbien gehört, hat zwar nichts mit der Operation Oluja zu tun, drückt aber ebenso wie die Trauer um die Krajina großserbische Fantasien im Publikum aus. Vor der Bühne schwenken Anhänger*innen des Präsidenten Fahnen mit seinem Konterfei. Die Frankfurter Rundschau zitiert Vučić mit folgenden Worten: „Wir werden nie wieder zulassen, dass ihr die Freiheit eines Serben in irgendeiner Weise bedroht.“ Eine Aussage, die sich auf die Verurteilung Dodiks in Bosnien-Herzegowina bezieht. Vučić betonte, dass die internationale Gemeinschaft Serbien seit den Jugoslawienkriegen ungerecht behandle und er es nicht zulassen werde, dass Serbien zum Diener ausländischer Mächte wird. 

Vom Regen durchnässt, in schlecht sitzende Müllsäcke gehüllt, verlassen wir das Veranstaltungsgelände und bahnen uns unseren Weg zurück zum Bahnhof. Da die meisten anderen Kundgebungsteilnehmer*innen mit Reisebussen angereist sind, finden wir einen Sitzplatz und sind froh, dass uns der Zug sicher zurück nach Belgrad bringt, und wir Regen, Nationalismus und Geschichtsrevisionismus entfliehen können.


Foto: Anne Marie Patzke