Können queere Menschen unter einer autoritären Regierung sie selbst sein? Und wie funktioniert queerer Aktivismus in Serbien? Darüber spricht die UnAuf mit Jelena Vasiljević, genannt Vasa, Mitbegründerin der queeren Organisation „Rainbow Ignite“ und eine der langjährigsten queeren Aktivist*innen in Serbien.
UnAuf: Wie kamst du zum queeren Aktivismus und was hat dich motiviert?
Vasa: Meine Beteiligung im queeren Aktivismus hat 2009 durch die Organisation der Belgrad Pride begonnen. Ich war damals aktiv bei der lesbischen Menschenrechtsorganisation Labris. Der Hass, der uns entgegengebracht wurde, war vollkommen abnormal. Und ich dachte mir, dagegen muss ich etwas tun. So hat mein Aktivismus vor fast 15 Jahren begonnen. Bei Labris habe ich fünf Jahre gearbeitet und die Geschichten, die ich dort über queerfeindliche Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt gehört habe, waren für mich einschneidend. Danach habe ich für ERA LGBTQ gearbeitet, ein Netzwerk aus LGBTQ-Organisationen in der gesamten westlichen Balkan-Region und der Türkei. Jetzt arbeite ich an verschiedenen Dingen. Zusammen mit zwei anderen Frauen habe ich Rainbow Ignite gegründet. Wir leisten Arbeit im gemeinschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich.
UnAuf: Wie sieht die Alltagsdiskriminierung queerer Menschen in Serbien aus?
Vasa: Wenn du dich öffentlich ausdrückst, gibt es immer die Möglichkeit, körperlich oder verbal angegriffen zu werden. Die junge Generation erfährt Diskriminierung und Gewalt vor allem in den sozialen Medien und sogar auf Dating-Apps. Aber wenn wir über Alltagsdiskriminierung im echten Leben sprechen, ist es schwierig, sich auf ein Problem festzulegen. Queerfeindliche Gewalt beginnt bereits in der Schule und darauf folgt Hindernis nach Hindernis. Diskriminierung findet in jedem Lebensbereich queerer Menschen statt. Nenn mir ein Beispiel und ich weiß von einer Person, die heute in diesem Bereich Diskriminierung oder Gewalt erfahren hat.
UnAuf: Wie beeinflusst die Regierung Vučićs queere Menschen und Organisationen?
Vasa: Vučić ist großartig im Pinkwashing. Der Höhepunkt war es, eine lesbische Frau zur Präsidentin der Nationalversammlung zu ernennen. Die Realität für queere Menschen sieht ganz anders aus. Grundsätzlich haben wir unter Vučić gute rechtliche Rahmenbedingungen, da Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität verboten ist. Aber von der Durchsetzung dieser Gesetze sehen wir nichts. Uns fehlen auch noch immer die gleichgeschlechtliche eingetragene Partnerschaft und das Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität. Außerdem verbreiten Vučić und seine Partei ihre eigene Erzählung von dem, was Aktivismus bedeutet. Wenn ein regierungsfreundliches Programm über SNS-Mitglieder berichtet, werden sie Aktivisten genannt. Echten Aktivist*innen und NGOs sprechen sie diesen Titel natürlich ab. Sie verbreiten also ein völlig falsches Narrativ. Mittlerweile führt es zu Verwirrung, wenn du sagst, du bist Aktivist*in, da Leute denken, du arbeitest für Vučić. Wegen allem, was gerade passiert, können und wollen wir keine staatliche Finanzierung annehmen, da wir so als Instrument des Staates ausgenutzt würden. Wir können allerdings EU-Finanzierung annehmen.
UnAuf: Wie sieht die queere Kultur in Serbien aus?
Vasa: Eine Sache, an der wir als Rainbow Ignite arbeiten, ist, queere Künstler*innen zu unterstützen. Wir haben beispielsweise eine Kooperation mit dem Nationaltheater oder anderen kulturellen Institutionen. Letztes Jahr haben wir die erste Frauen geleitete Oper mitorganisiert, was ein großes Event war. Außerdem organisieren wir eine Tour durch das queere Archiv Arkadium in Belgrad. Die Drag-Szene in Belgrad ist auch toll.Wir hatten früher viele queere Cafés und Clubs, aber vieles musste wegen finanzieller Probleme schließen. Es ist wichtig zu bedenken, dass wir bei der queeren Community in Serbien von einer Gruppe sprechen, die häufig in Armut lebt. Wir arbeiten oft in weniger gut bezahlten Jobs oder beenden aufgrund von Mobbing die Schule nicht. Wir unterstützen also viele Selbstständige aus der queeren Community, die Bars und Clubs eröffnen wollen. Bald veranstalten wir außerdem das erste FLINTA-Event in Novi Sad.
UnAuf: Wie groß ist das öffentliche Interesse und wie ausführlich die mediale Berichterstattung über die Herausforderungen queerer Menschen in Serbien?
Vasa: Da wir uns in einer Ära des Autoritarismus befinden, gibt es in Serbien keine freien Medien in dem Sinne. Bei der Ankündigung queerer Events geht es darum, den richtigen Moment zu wählen, damit vielleicht ein paar Nachrichtenportale davon berichten. Man braucht außerdem gute Beziehungen zu Journalist*innen. Meistens wird aber negativ über queere Themen berichtet. Wir als Rainbow Ignite achten auch darauf, wie innerhalb der Politik über queere Menschen gesprochen wird, um Klagen einreichen zu können. Meistens werden sie im politischen und öffentlichen Kontext schlecht gemacht. Auch wichtige Themen wie Femizide werden von den großen Medien ausgeklammert. Probleme, die Frauen betreffen, werden nicht thematisiert, bis wir sagen: Scheiß drauf, es reicht jetzt.
UnAuf: Die Student*innenenproteste konzentrieren sich zu einem großen Teil auf die Durchsetzung demokratischer Werte und Gerechtigkeit. Gibt es Solidarität oder eine Zusammenarbeit zwischen der Student*innenbewegung und der queeren Bewegung in Serbien?
Vasa: Am Anfang gab es großes Potenzial. Doch dann hat sich die Student*innenbewegung von einer linken Ausrichtung zurück zu den traditionellen Werten der serbischen Gesellschaft bewegt, was für uns nicht angenehm war. Da auch queere Student*innen in den Uni-Besetzungen, in den Plena und Blockaden sind, haben wir die Student*innenbewegung von Anfang an unterstützt. Wenn sie Rainbow Ignite kontaktieren und um Essen, Kissen, Decken oder andere Dinge bitten, schicken wir sie ihnen. Die Student*innenbewegung und die queere Bewegung haben sich aber dennoch klar voneinander entfernt.
UnAuf: Haben die Student*innenproteste queere Student*innen auf eine besondere Art beeinflusst?
Vasa: Ja, sie haben große Schwierigkeiten, aber man muss sich der Resilienz queerer Student*innen in Serbien bewusst sein. Wenn du dich bereits jung als queer identifizierst oder outest, stehst du vor vielen Herausforderungen, weil die soziale Akzeptanz hier nicht groß ist. Du entwickelst also eine dicke Haut. Die queeren Student*innen haben auf jeden Fall Schwierigkeiten innerhalb der Bewegung und wir bieten ihnen im Community Center psychologischen und emotionalen Support oder auch einfach einen Raum, in dem sie sich für ein paar Stunden entspannen können.
UnAuf: Stimmt es, dass die Konversionstherapie in Serbien noch nicht explizit verboten ist?
Vasa: Das stimmt und viele sind davon betroffen. Viel medizinisches Personal hat noch gelernt, dass Homo- und Transsexualität Krankheiten seien, auch wenn sie in Serbien mittlerweile offiziell nicht mehr als solche gelten. Die Konversionstherapie findet meistens bei Psycholog*innen oder Psychiater*innen statt. Queere Personen machen vielleicht aus einem anderen Grund eine Psychotherapie und wenn sie sich outen, erkennen Psycholog*innen ihre Sexualität als das vermeintliche Problem für ihre Beschwerden. Auch bei Gynäkolog*innen oder Urolog*innen machen Leute ähnliche Erfahrungen. Abgesehen davon findet Konversionstherapie im religiösen Kontext durch Exorzismen oder innerhalb des Familienkreises statt. Mit dem Ansteigen der Konversionstherapie seit 2024 sehen wir auch einen Anstieg der Suizidrate innerhalb der queeren Community.
UnAuf: Wie ist queerer Aktivismus in den verschiedenen Balkanstaaten miteinander verbunden?
Vasa: Der queere Aktivismus in den Balkanstaaten entstand aus der Friedensbewegung und der feministischen Bewegung der 90er Jahre. Die verschiedenen Staaten waren also von Anfang an miteinander verknüpft. Seitdem kooperieren wir noch immer über staatliche Grenzen hinweg. Letztes Jahr hatten wir eine große Konferenz für queere Frauen aus dem ganzen Balkan. Im November eröffnet ein Zentrum für queere Geschichte in Bosnien-Herzegowina und die Promotion findet hier in Belgrad statt. Rainbow Ignite ist außerdem Teil des Balkan Queer Network, das unter anderem Bulgarien, Rumänien, die postjugoslawischen Staaten, Albanien, die Türkei und Griechenland einschließt. Wir unterstützen uns also immer gegenseitig.
UnAuf: Lesbische Themen werden innerhalb der LGBTQ-Community oft übersehen. Wie rückst du die Herausforderungen lesbischer Frauen besonders in den Fokus?
Vasa: Die lesbische Bewegung hat historisch immer den Anfang gemacht, wenn es darum ging, für die Rechte queerer Menschen zu kämpfen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass unsere Organisation auf feministischen Prinzipien basiert. Wir organisieren besonders soziale und künstlerische Projekte, wie das „Women Loving Women Art Fest“ und Projekte zu queerer Literatur und Poesie, woran üblicherweise hauptsächlich Lesben teilnehmen. An diesen Projekten arbeiten viele queere Frauen und wir versuchen, ihre Arbeit besonders zu würdigen und zu unterstützen.
UnAuf: Würde sich deiner Meinung nach etwas für queere Menschen in Serbien ändern, wenn Serbien Teil der EU wäre?
Vasa: Meiner Meinung nach werden wir niemals ein Teil der EU sein. Sogar als wir noch eine demokratische Regierung hatten, hat die EU an der Grenze der Balkanstaaten grundsätzlich Halt gemacht. Ich denke durch das Lithium-Programm der EU in Serbien wollen noch weniger Serb*innen Teil der EU werden. Aber selbst wenn Serbien Teil der EU wäre, denke ich, würde es keinen großen Unterschied machen. Ich schaue mir Ungarn, Polen und sogar die Niederlande und Schweden an. Überall regieren jetzt rechte Politiker*innen und diese bilden eben das Europäische Parlament.
UnAuf: Was sind die wichtigsten Dinge, die du durch deinen Aktivismus gelernt hast?
Vasa: Verschiedene Methoden auszuprobieren, um seine Ziele zu erreichen. Auch die Drag Kings zu unterstützen, es gibt nicht nur Drag Queens. Und die bereicherndste Arbeit leisten wir in den ländlichen Regionen, wo queere Menschen besondere Herausforderungen haben und auch Unterstützung brauchen. Aber das Wichtigste, was ich gelernt habe, ist, sich immer seiner eigenen Kraft bewusst zu sein. Als Aktivist*innen vertreten wir die queere Community nach außen hin und wir müssen mit dieser Verantwortung gut umgehen.
UnAuf: Was sind deine Hoffnungen für die Zukunft?
Vasa: Ich setze definitiv Hoffnung in die Wahlen. Ich bin mir zwar der Situation bewusst, trotzdem erhoffe ich mir dadurch eine demokratische Veränderung.Wenn Vučić gewinnen sollte, wäre das fürchterlich. Eine richtige Demokratisierung Serbiens wird ein langer Prozess, da wir viele Schritte zurückgegangen sind. Außerdem hoffe ich zumindest darauf, dass sich Serbien der EU weiter annähert. Und dann kommt es auf die Zivilbevölkerung an, für ihre Rechte zu kämpfen.
Illustration: Lucia Maluga







