Berlin hat sonderbare Ecken und Kanten. Es ist eine Stadt voller Vielfalt, in der sich Plätze ständig wandeln und die Skyline unaufhörlich wächst. Und doch gibt es Orte, die unverändert bleiben. Orte, die uns verbinden oder voneinander entfremden. Unsere Autor*innen nehmen euch mit durch die Stadt und zeigen euch Plätze, die auf ihre Weise faszinieren.

Das grüne Dreieck an der Warschauer Brücke

Emely Stache

Trotz des nahenden Winters leuchtet der Grasfleck unter der Fußgänger*innenbrücke vor dem „Amazon-Tower” in strahlendem Grün. Nur selten findet er Beachtung, denn auf der Brücke zwischen den beiden Bahnhöfen prägen Tourist*innen auf dem Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit, gehetzte Pendler*innen und verweilende Berliner*innen das Bild.

Foto: Emely Stache

So oder so soll das Grün nach den Plänen der Anschutz Entertainment Group (AEG) bald ein Ende finden. Die umzäunte Oase unter der Brücke soll einbetoniert werden. Quasi als Foyer für die sterile Betonwüste, die sich bereits von Uber Platz bis East Side Mall erstreckt. Der letzte lebendige Fleck soll der nächsten Entwicklungswelle weichen.

Im September wurde im Baukollegium das Projekt „The Hub” enthüllt. Auf der Brücke zwischen U- und S-Bahn-Station ist ein weiteres Hochhaus von 120 Metern Höhe geplant. Das Publikum auf der Fußgänger*innenbrücke soll dabei durch das Gebäude laufen können. Unter der Brücke, auf Ebene der Tamara-Danz-Straße, sollen eine Kiezküche, eine Fahrradreparaturstation, ein WC und ein BVG-Pausenraum entstehen. Die spontanen Raves, die immer wieder unter der Brücke stattfinden, sollen somit verschwinden. Falls es durch die Pendler*innen, die durch das Gebäude strömen, doch einmal lauter wird, dienen die „mietpreisgedämpften” Gewerbeflächen in den unteren Etagen als Puffer für die Büroflächen oben. In den Plänen ist der einst angekündigte Wohnraum vorerst nicht mehr vorgesehen.

Gras und Kulturgeschehen sollen gleichzeitig zerstampft werden. Mit größter Mühe versuchen die Investor*innen hier alles zu desinfizieren, was soziokulturell belastet ist. Dieser leuchtende Fleck Natur – umzäunt, künstlich, seltsam – ist der letzte Hinweis darauf, was hier hätte wachsen können.

Ein Raum der Sportlichkeit?

Lea Baumgarten

Überall in der Stadt, klirrt Stahl auf Gusseisen. Tauenzien Ecke Nürnbergerstraße am Zoo gleicht Schweiss dem flutenden Licht und Form steht meist über Funktion. Der Haftbefehl-Vers „Menschliche Werte zählen nicht, nur ob er glänzt der Mercedes Benz” könnte hier angewendet werden, wäre das Auto eine Metapher für einen stählernen Körper.

Foto: Pexels

Leute können 200kg deadliften, aber keinen Baum hochklettern! Recht ungewöhnlich zu einer anderen, aber auch eigentlich dieser Zeit. Klar ist Gesundheit wichtig, aber was nutzen die Muskeln, wenn wir sie nur im Gym anwenden? Die Ungewöhnlichkeit liegt in der mangelnden Bewegung unseres Alltags. Sie liegt in der Realität, dass wir an einem Mittwochabend bei 100 dB Dua Lipa,  grelles Neonlicht und Max, der viel zu nah an der gerade benutzten Beinpresse steht, nachdem er wissen wollte wie viele Sätze man noch macht, über einem Lauf im Wald, gefolgt vom Werfen ein paar Baumstämme, favorisieren müssen, weil das Großstadtleben eben doch seine Grenzen hat.

Kunstinstallation an der Kreuzung

Emely Stache

Blaues Leuchten. Krankenwägen jagen zur Notaufnahme der Charité. Autos, Fahrräder und Scooter. Menschen, die aus gelben Bussen und Straßenbahnen steigen, in ihre Büros hetzen oder sich in einem Café mit ihren Liebsten treffen – an der Kreuzung der Friedrich- und Torstraße herrscht Hektik. Daneben: das Bild eines Wolfes. Eingefangen in einer Collage aus Schriften, Zeichnungen und Fotografien.

Foto: Emely Stache

Seit vier Jahren schmückt der Neue Berliner Kunstverein (n.b.k.) an der Kreuzung eine insulare Wand auf Stelzen mit wechselnden Plakaten. Es ist Werbung und doch mehr. Auf dem Weg von der Sportforschungshalle zur U6 wird man aus der Reizüberflutung des Alltags gerissen. Für einen Moment gibt es die Chance anzuhalten.

Gegenüber steht der Wolf und schaut zurück.

Baumhaus an der Mauer

Jakob Gerstberger

Foto: Wikimedia Commons Wikicookie Data

Ein kleines Stück Freiheit und Paradies im Niemandsland? Der aus Anatolien stammende Osman Kalin hat sich das in Berlin geschaffen. Er kam 1969 nach West-Berlin und ging 1982 in Rente. Die nun freigewordene Zeit nutzte er, um ein dreieckförmiges, etwa 80-Quadratmeter großes, Stück Land in der Nähe der damaligen Mauer in einen Garten zu verwandeln. Das Grundstück war perfekt für Kalins Gartentraum geeignet, da weder Ost- oder West-Berlin sich zuständig fühlte. Es gehörte zwar offiziell zur DDR, diese konnte aber nicht darüber verwalten, weil es faktisch auf der West-Seite lag. Falls doch mal Polizist*innen vorbeikamen, hat Kalin diese laut Erzählungen mit seiner freundlichen Art, Chai und Baklava überzeugen können, ihn zu dulden. Duldung ist seitdem der Dauermodus für den kleinen Garten mit zweistöckigem Baumhaus. Seit Osman Kalins Tod vor sieben Jahren verwaltet sein Sohn diesen ungewöhnlichen Ort. Auf Anfragen gibt er Führungen, irgendwann soll es auch ein Museum geben.


Illustration: Shiwen Sven Wang