Im Oktober 2025 spricht Bundeskanzler Friedrich Merz auf einer Pressekonferenz in Potsdam über das bleibende „Problem im Stadtbild”. Was bedeutet die Debatte, die wir darüber führen?

Schon lange geht es in der öffentlichen Diskussion rund um die Stadtbild-Aussage des Kanzlers nicht mehr um ihre eigentliche Bedeutung und viel mehr um die Reaktionen, die sie auslöste. „Kabarettist Vince Ebert rechnet mit Merz-Empörung ab”, schreibt etwa die BILD am 6. November. Was wie jeder x-beliebige Beitrag einer rechten Telegram-Gruppe klingt, spiegelt den größten Talking Point in einer Debatte wider, in der es ursprünglich um etwas ganz anderes ging: Rassismus.

Irgendwo in den polarisierenden Online-Debatten sind wir zwischen dem Engel Merz und dem Nazi Merz abgerutscht in das altbekannte „Heute darf man ja gar nichts mehr sagen.” Der Schauspieler Sky du Mont zum Beispiel kommt in der Fernsehsendung Maischberger zu dem Schluss, dass auch Friedrich Merz ein Mensch sei, der mal schlecht drauf ist. Eben. Wieso sollte der Bundeskanzler nachdenken, bevor er redet?

Am Hausvogteiplatz in Berlin, ganz in der Nähe der vor kurzem unbenannten Anton-Wilhelm-Amo-Straße, zuvor M*hrenstraße, steht unübersehbar ein Zitat Albert Einsteins an einer Hausfassade: „Wenn es sich um Wahrheit und Gerechtigkeit handelt, gibt es keine Unterscheidung zwischen kleinen und großen Problemen.” Empören wir uns also noch etwas mehr über den kleinen sprachlichen Ausrutscher des Kanzlers.

„Fragen Sie mal Ihre Töchter”

Auf die Nachfrage eines Journalisten, was Merz mit der Stadtbild-Aussage gemeint habe und, ob er den Aufforderungen, sich zu entschuldigen, nachkommen wolle, konterte Merz mit „Fragen Sie mal ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte.” Was hat Merz in seiner politischen Karriere nicht schon für Frauen getan? Unter anderem stimmte er gegen die Gesetzesreform, die Vergewaltigungen in der Ehe strafbar machte. Auch gegen die Abschaffung des Paragrafen 218 hat er gestimmt. Dieser stellt Abtreibungen grundlegend unter Strafe. Wenigstens vor den bösen Ausländern beschützt er nun die armen deutschen Frauen, wie löblich.

Woher kommt der feministische Kampfgeist des Kanzlers, wenn es um Abschiebungen geht? Oder geht es hier um etwas ganz anderes? Einem Mann, der sich noch im Januar 2023 über die Migrant*innen beschwerte, die den Deutschen die Zahnarzttermine wegnehmen würden und der arabischstämmige Jungen als „kleine Paschas” betitelte, kann sicher kein blanker Rassismus vorgeworfen werden.

Dass konservative und rechte Parteien in ihrer Migrationspolitik immer wieder auf die vermeintliche Gefahr verweisen, die bestimmte Menschengruppen für Frauen darstellen sollen, ist keine Neuheit. Bei Donald „Grab ‘em by the pussy”-Trump sind es die Mexikaner*innen, die nicht nur den weißen Amerikaner*innen ihre Jobs wegnehmen, es sind auch die Mexikaner, die Araber und Afroamerikaner, die weiße Frauen vergewaltigen. Bei der AfD sind es vor allem Araber oder Männer mit dunkler Hautfarbe, die die armen, deutschen Frauen gefährden.

Und wer ist es bei Friedrich Merz? All diejenigen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus, die nicht arbeiten und sich nicht an die Regeln halten. So rudert er zumindest später mit seiner Aussage erstmals zurück, ohne irgendwelche vorgeschobenen Töchter mit ins Boot zu holen. Wo Friedrich Merz mit seiner späteren Erläuterung noch versucht, eine Kurve zu kriegen, die ihn gerade so davon abhält, ideologisch auf einer Strecke mit der AfD zu fahren, haben Politiker*innen in anderen Teilen der Welt bereits einen Pakt mit dem Faschismus unterschrieben.

Wir sind das Stadtbild

Als Antwort auf Merz’ Sorge um die Frauen, haben einige prominente Frauen sich in einem offenen Brief gegen ihn gestellt und ihn aufgefordert, sie nicht für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Stattdessen solle er sich politisch tatsächlich für die Sicherheit von Frauen einsetzen. Auch große Demonstrationen unter dem Motto „Wir sind die Töchter!” und „Wir sind das Stadtbild!” fanden statt. Die Antwort vieler: Wenn wir nachts draußen unterwegs sind, macht es keinen Unterschied, ob uns ein deutscher oder ein syrischer Mann entgegenkommt. Das Problem sind Männer und nicht ihre Herkunft.

Natürlich wird es auch immer Frauen geben, die ausgerechnet einem Merz den Rücken stärken. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner etwa erinnerte an Anschläge ausländischer Menschen im öffentlichen Raum im vergangenen Jahr. Dabei impliziert der Begriff des „Stadtbildes” doch etwas viel Allgemeineres als nur einzelne Gewalttäter. Sind diese Fälle etwa das, was in den Augen der CDU Ausländer*innen in Deutschland repräsentiert?

Wichtiger als die Meinung der deutschen Frauen ist noch immer die Pauschalisierung migrantischer Menschen, die in der Aussage von Merz steckt. Auch die haben eine Antwort: Die Wiederaneignung der Aussage. In den sozialen Medien sprechen besonders junge Menschen davon, bewusst „das Stadtbild zu zerstören”: Es geht um die Abwendung von einer Politik, die immer weiter nach rechts rückt, um die Verweigerung, sich einer rassistischen Gesellschaft anzupassen. Denn wie man es dreht und wendet, eine rassistische Aussage bleibt am Ende eben genau das.

Die Macht der Worte

Was bedeutet es, wenn sich ein christlich-demokratischer Bundeskanzler über das Stadtbild beschwert – in einer Zeit, in der in Hanau vor gerade einmal fünf Jahren neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet wurden und wo nun wieder Hakenkreuze auf Autos gemalt werden? In einer Zeit, in der die erste Reaktion Deutschlands auf den Sturz Al-Assads nicht die Frage war, wie es jetzt für Syrien weitergeht, sondern „Abschiebungen!” zu schreien? Es lohnt sich sicher nicht, über ein einzelnes Wort zu diskutieren. Wäre da nicht eine rechtsextremistische Partei als zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag. Würde es nicht seit Monaten ausschließlich und dauerhaft um das vermeintlich größte Problem, „Migration, Migration, Migration!” gehen.

Um sich der Macht bewusst zu werden, die Worte und Rhetorik innehaben, reicht es schon, sich an den Worten der ehemaligen Partei-Kollegin des Kanzlers, Angela Merkel, zu orientieren: „Achtet auf die Sprache. Denn die Sprache ist sozusagen die Vorform des Handelns. Wenn die Sprache auf die schiefe Bahn gekommen ist, kommt auch sehr schnell das Handeln auf die schiefe Bahn. Dann ist auch Gewalt nicht mehr fern.” Auch Aussagen, die hinterher „konkretisiert” werden, was in diesem Fall im Grunde nur zurückrudern bedeutet, erweitern das Spektrum dessen, was im politischen Raum ohne Probleme gesagt werden darf, und was nicht. Wo Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland nicht längst schon salonfähig sind, gibt Friedrich Merz sich größte Mühe, das zu ändern.


Illustration: Shiwen Sven Wang