Eines war unserer Autorin bei der WG-Suche klar: Angebote, die außerhalb der Ringbahn liegen, werden ignoriert. Das ist zwar aufgegangen, „rausgewagt” hat sie sich trotzdem. Ein Bericht der ersten Eindrücke.

Nach Kreuzkölln oder Friedrichshain ziehen, das war mein Traum als ich für meinen Master nach Berlin gezogen bin. Die coolen Stadtteile halt. Letztendlich ist es Wilmersdorf geworden. Damit bin ich auch sehr glücklich, aber darum soll es hier nicht gehen. Denn – Überraschung – Berlin hört außerhalb der Ringbahn nicht einfach auf. Das durfte ich das erste Mal bei einem Besuch in Tegel feststellen, als ich dort bei einem Spaziergang am Tegeler See entlang das Gefühl hatte, auf der Uferpromenade eines Kurparadieses gelandet zu sein. Das zweite Mal „raus” geht es, als ich mir beim Gesundheitsamt Lichtenberg meine Infektionsschutzbescheinigung für die Arbeit abhole. Das Erste, was mir beim Anblick des Gebäudes durch den Kopf schießt: Hier wird Gesundheit zu Grabe getragen. Von außen sieht es aus wie ein seit Jahren leerstehender Plattenbau mit unzähligen Zwei- bis Dreizimmerwohnungen, in denen sich der Nikotingeruch im Teppichboden festgesetzt hat.

Nach diesen zwei sehr gegensätzlichen Erfahrungen zieht es mich für meinen dritten Ausflug in einen Stadtteil, über den ich bisher kaum eine andere Beschreibung als „langweilig” gehört habe. Nach Spandau.

Die Hard Facts: Der Stadtteil grenzt an Reinickendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf und Steglitz-Zehlendorf, hat circa 250.000 Einwohner*innen und wird von der U7 sowie der S9 als eine der letzten Stationen angefahren. Mein erster Eindruck, als ich an einem nebligen Sonntagvormittag aus der U-Bahn-Station in die Fußgängerzone der Spandauer Innenstadt trete, ist, dass hier nichts mehr an Berlin erinnert, sondern dass das hier auch die Fußgängerzone irgendeiner beliebigen bayerischen Kleinstadt sein könnte. Die Häuser sind niedrig, viel Backstein, ein bisschen Fachwerk, bei Sonnenschein vielleicht sogar idyllisch. Im grauen Novembernebel erscheinen die Angebote in den Schaufenstern der Spandauer Reisebüros jedoch umso verlockender. Direkt an der U-Bahnstation steht außerdem eine imposante Backsteinkirche, die auch gut auf einen Dorffriedhof passen würde. Das schönste Gebäude der Innenstadt ist die von Efeu bewachsene, villaähnliche Stadtbibliothek, die sympathischerweise auch sonntags offen hat. Ein wenig ernüchtert von meinem bisherigen Ausflug entschließe ich mich noch, die Zitadelle, das Wahrzeichen Spandaus, zu besuchen. Auf dem Weg stolpere ich über ein sehr süßes Zimtschneckencafé, das – wären die Zimtschnecken vegan – auch im Prenzlauer Berg stehen könnte.

Mit einem Café und einer Zimtschnecke in der Hand bin ich Spandau gleich viel wohlgesonnener und spaziere an der Havel entlang Richtung Zitadelle. Was auffällt, sind die vielen Kinderwagen und, dass die Leute sehr viel langsamer unterwegs sind als in den zentralen Berliner Gegenden. Es herrscht eine sehr entschleunigte Sonntagsstimmung und die Schwäne, die auf dem Wasser treiben, die goldenen Herbstblätter und die klare Luft machen mich mit meinem Kaffee in der Hand richtig glücklich. Von der Uferpromenade hat man einen guten Blick auf das Heizkraftwerk Reuter West, dessen Abgase sich mit dem bewölkten Himmel vermischen. Ignoriert man dessen umweltschädliche CO₂-Emissionen, strahlt diese Ecke Spandaus mitsamt ihrer leerstehenden Fabrikgebäude vor dem Kraftwerk einen eigenwilligen Industriecharme aus. Mein Highlight Spandaus soll aber die Zitadelle werden. Bereits der Spazierweg um die Zitadelle, einer Festungsanlage aus der Zeit der Hochrenaissance, sieht mit seinen orangen und gelb leuchtenden Bäumen aus wie ein kleiner Pinterest-Traum. Wie erwartet gibt es im Inneren der Festung viele Informationen zur Geschichte der Festung und auch das stadtgeschichtliche Museum Spandau befindet sich auf dem Gelände. Positiv überrascht mich, dass es dort auch ein Theater, eine Jugendkunstschule, ein Keramikatelier und eine Ausstellung zu Straßenumbenennungen in Berlin mit feministischen und postkolonialen Perspektiven gibt. Mein Highlight ist die Ausstellung zu Vera Mercer im Zentrum für Aktuelle Kunst, das sich ebenfalls auf dem Gelände der Zitadelle befindet. Ihre Fotografien von Pariser Straßenszenen und ihrem illustren Freundes- und Bekanntenkreis – Niki de Saint Phalle, Marcel Duchamp, Meret Oppenheim – wecken Erinnerungen an mein Kunst-Abi und entführen ins Paris der 1960er Jahre. Der Eintritt (2,50 Euro für Studierende für das gesamte Gelände) hat sich auf jeden Fall gelohnt.

Würde ich nochmal nach Spandau fahren? Allein vermutlich nicht, dafür hat Berlin auch innerhalb des Rings genug zu bieten. Im Falle von geschichtsinteressiertem (Familien-)Besuch ist die Zitadelle Spandau hingegen ein Ort, den es lohnt, auf dem Schirm zu haben. Und auch wenn eure Familie Angst haben sollte, dass ihr im wilden Berlin nur bis zum nächsten Clubbesuch lebt, euch längst selbst verloren habt und das Mehl auf dem Regal eigentlich Koks ist, dann ist ein gemeinsamer Ausflug nach Spandau vielleicht genau das Richtige, um zu zeigen, dass Berlin auch ganz bürgerlich idyllisch sein kann.


Foto: Milla Jenssen