Protestwellen rollen über Serbien. Nachdem ein Bahnhofsvordach in Novi Sad beim Einsturz letzten Jahres 16 Menschen in den Tod gerissen hat, findet das Land keine Ruhe. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Historiker Nenad Stefanov im Gespräch über Nationalismus und Spaltung in der Geschichte Serbiens.

UnAuf: Schlägerbanden und Schallkanonen zählen mutmaßlich zu den Instrumenten des Präsidenten Vučić. Mit diesen versucht er seit November letzten Jahres, die Protestbewegung in Serbien klein zu halten. Herr Stefanov, mit wem haben wir es hier zu tun?

Nenad Stefanov: Erstmal sollten wir sehen, dass sich seit 2012 eine neue politische Elite herausgebildet hat. Die einzelnen politischen Akteur*innen haben jedoch eine längere Vorgeschichte bis in die 1990er Jahre zurück. Also in die Zeit des Zerfalls Jugoslawiens. Kriege um ethnisch homogene Territorien, die von 1991 bis 1995 gedauert haben und mit dem Friedensvertrag von Dayton, Ohio geendet sind. Dazu kommt die NATO-Intervention im Kosovo 1999. In Makedonien kam es 2001 nochmal zu einer mehrere Wochen dauernden militärischen Auseinandersetzung zwischen der makedonischen Armee und albanischen Separatisten. Das heißt, wir haben es in diesem Raum über zehn Jahre mit einer Präsenz von Gewalt zu tun. 

Zugleich gab es in dieser Zeit und danach immer auch das Bestreben nach demokratischer Partizipation und Rechtsstaatlichkeit. Doch letztlich lässt sich die Erfahrung von Gewalt und Vorstellungen von Ordnung nicht so schnell auflösen. Das hängt davon ab, wie politische Akteur*innen diese Erfahrungen reflektieren.

Sicherlich ist auch noch wichtig, dass wir seit 2012 eine Regierung haben, die mit verantwortlichen Personen aus den 1990er Jahren besetzt ist. Dabei waren seit Ende der 2010er Jahre viele politische Akteur*innen der EU und Deutschlands, besonders in der CDU, überzeugt, dass gerade diese Politiker*innen erfolgreicher das Projekt eines EU-Beitritts in diese Gesellschaft hinein vermitteln können. 

Doch durch die Abschwächung der Integrationsbereitschaft der EU an die beitrittswilligen Staaten kam es zu einer Art Renationalisierung dieser politischen Akteure.

UnAuf: „Er war schon immer im Kern ein serbischer Nationalist“, sagt Politikwissenschaftler Vedran Dzihic über Vučić. Teilen Sie diese Auffassung und warum?

Nenad Stefanov: Ich denke, dass Vedran Dzihic da sicherlich nicht falsch liegt. Doch man muss ergänzen, dass die Vorstellung von geschlossenen ideologischen Systemen nicht das trifft, was wir in den letzten 50 Jahren erlebt haben. Das, was wir lange als Ideologien bezeichnet haben, ist heute viel flexibler.

Was wir in den 1990er Jahren unter Nationalismus verstanden haben, existiert nicht mehr in dieser Form. Das bedeutet nicht, dass die politische Herrschaft heute nicht mehr repressiv ist. Es handelt sich um nahezu beliebige Versatzstücke aus allen möglichen Resten bisheriger Ideologien. Das sehen wir bei der AfD, in Ungarn, Polen etc. 

Ein Element haben alle gemeinsam: Fremdenfeindlichkeit und Ethnonationalismus, das Verständnis von Nation als Abstammungsgemeinschaft.

UnAuf: Bevor Serbien 2006 zu dem Staat wurde, den wir heute kennen, gab es den Staat Jugoslawien. Dazu gehörten ursprünglich sechs Teilrepubliken. Welche Rolle spielte Serbien beim Zerfall von Jugoslawien?

Nenad Stefanov: Wie mein Doktorvater Holm Sundhausen einmal gesagt hat: Serbien war die größte Republik dieser Föderation und sicherlich kommt der größten Republik die größte Verantwortung zu. Die politische Elite in Serbien, unter der Führung von Slobodan Milošević, hat sich einerseits international als Verteidiger des Bundesstaates dargestellt. Andererseits hat sie versucht, ein Gebiet zu schaffen, in dem alle Serb*innen weiterhin in einem Staat leben. Der Fortbestand Jugoslawiens war eigentlich die Lösung dafür. Doch Ende der 1980er und 1990er dominierte dann das erwähnte ethnonationale Konzept von Nation, das mit Gewalt umgesetzt wurde

UnAuf: Der damalige Präsident Slobodan Milošević stand bis zu seinem Tod 2006 als Angeklagter vor dem Kriegsverbrechertribunal. Er gilt bis heute als einer der Hauptverantwortlichen der Jugoslawien-Kriege und der grausamen Gräueltaten von Srebrenica. Kann man sagen, dass Vučić das Erbe Miloševićs trägt? 

Nenad Stefanov: Diese Frage führt dahin zurück, was Nationalismus bedeutet. Oder was sich bei der Bedeutung verändert hat.

Die Kader der Milošević-Zeit waren realsozialistisch sozialisiert. Es handelte sich zumindest nominell um einen egalitaristischen Ethnonationalismus. 

Nationalismus hat ja immer auch dieses Gemeinschaftsideal der harmonisch-solidarischen nationalen Gemeinschaft. Aber letztlich sind das heute alles Akteur*innen eines kaum eingehegten Neoliberalismus. Das hat die Ohnmachtserfahrung der Menschen also noch verstärkt. 

UnAuf: Der 28. Juni ist ein symbolträchtiger Tag für das serbische Nationalverständnis. Am selben Tag wurde auf Protesten ein Hitler-Verehrer zitiert. Es ging um Großserbien und genozidale Pogrome im Kosovo. Wie tief sitzt der serbische Nationalismus auch in liberalen Bewegungen?

Nenad Stefanov: Ich denke nicht, dass wir fragen sollten, wie tief der Nationalismus in der liberalen Bewegung steckt. Ethnonationalismus bleibt die dominierende Wahrnehmungsform von Gesellschaft. Das gilt eigentlich für die gesamte Region. In diesen schrumpfenden Gesellschaften von Kroatien bis Bulgarien werden solche Narrative nicht systematisch herausgefordert.

Nicht der Nationalismus, sondern die starke Präsenz von Akteur*innen, die Rechtsstaatlichkeit einfordern, ist also überraschend.

Ich sage es mal so: Man kann den Nationalismus einfacher erklären, als man das Phänomen dieser offensichtlich stark basisdemokratisch ausgerichteten Bewegung erklären kann.

UnAuf: Gibt es einen Grund dafür, dass die Protestbewegung zu großen Teilen aus Studierenden besteht?

Nenad Stefanov: Viele Menschen sind in extrem prekären Arbeitsverhältnissen unterwegs. Die Rechte der Arbeitenden werden zumeist minimal beachtet. Das heißt, viele Menschen sind einfach vorsichtig. Außerdem arbeitet ein großer Teil der Menschen in staatlichen Einrichtungen. Auf der anderen Seite haben Universitäten und ähnliche Institutionen einen hohen Grad an Selbstbestimmung bewahrt. So konnte diese Bewegung entstehen – mit studentischem Gesicht. 


Illustration: Lucía Maluga