Rund 10.000 queere Menschen sind in Berlin wohnungs- oder obdachlos einer von ihnen war Tomi. Seine Geschichte zeigt, dass Hilfssysteme oft die Lebensrealitäten von LSBTIQ+ übergehen.

Wenn Tomi auf die vergangenen elf Jahre zurückblickt, spricht er langsam und mit Bedacht. Er lässt sich Zeit, wägt ab, welche Details aus seiner Vergangenheit er teilen und welche er verschweigen will. „Ich musste mir ja auch erstmal eingestehen, dass ich obdachlos bin”, erzählt er. Zehn Jahre lang lebte er ohne festen Wohnsitz in Berlin. Auf der Suche nach einer neuen Bleibe musste er als schwuler, autistischer Mann zahlreiche Hürden überwinden. Erst 2024 unterschrieb er schließlich seinen eigenen Mietvertrag. „Ich war unendlich froh, als ich die Zusage hatte”, erinnert er sich.

Wegen häuslicher Gewalt durch seinen damaligen Partner musste Tomi 2014 die gemeinsame Wohnung verlassen. Laut einer Studie des Berliner Senats aus dem Jahr 2024 zählt Gewalt zu den häufigsten Gründen für Wohnungs- und Obdachlosigkeit unter LSBTIQ+. Generell seien queere Personen besonders vulnerabel: Sie erleben vielmals Ablehnung durch ihre Familien oder Partner*innen, werden eher auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert und erhalten oft keine adäquate Nothilfe. Insbesondere nichtbinäre, inter- und trans*geschlechtliche Personen müssen sich bei Behördengängen immer wieder rechtfertigen oder werden in Notunterkünften mit Mehrbettzimmern kaum vor Diskriminierung geschützt. „Für LSBTIQ+ Personen ist die Gefahr, in Obdachlosenunterkünften Gewalt ausgesetzt zu sein, viel viel größer als für andere”, erklärt eine Expertin in der Studie.

Vorwürfe aus der schwulen Community

Heute engagiert sich Tomi ehrenamtlich im Gewaltschutz und in der Krisenhilfe für junge Autist*innen. Auch einer seiner Schützlinge habe vor kurzem beinahe seine Wohnung verloren, sagt er. Sobald Tomi über Ungerechtigkeiten spricht, sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus. Er hat viel zu erzählen: In den Jahren ohne Wohnung und während seiner ehrenamtlichen Arbeit hat er erlebt, wie oft Menschen vom Sozialsystem nicht aufgefangen werden. „Gerade queere Personen oder Menschen mit Behinderung, die mehrfach vulnerabel sind, benötigen häufig zusätzliche Unterstützung”, betont er. Er selbst sei oft auf Unverständnis getroffen, auch innerhalb der queeren Community. „Ich bin schon seit 1987 in der Kreuzberger Schwulenszene unterwegs, ein paar Freunde habe ich dort auch noch. Aber von einigen Personen, die meinen Ex-Partner kannten, habe ich damals gehört: ‚Vielleicht brauchst du es, so behandelt zu werden.’ Das hat mich total hilflos gemacht.”

Schließlich holte sich Tomi Hilfe: erst bei der Schwulenberatung, dann bei Queerhome*. Dort lernt er Kathrin* kennen. „Hier haben wir uns zum ersten Mal getroffen”, erinnert sich Tomi, als die beiden einen Meeting-Raum im Queerhome*-Büro betreten. An den Wänden hängen Fotografien von Menschen, die bei der Wohnungssuche von der Initiative unterstützt wurden – auch ein Porträt von Tomi ist dabei. Die meisten Personen aus der Fotoserie hätten inzwischen eine Wohnung gefunden, sagt Kathrin*.

Die Projektleitung von Queerhome* hat nur kurz Zeit für ein Gespräch, bevor der nächste Zoom-Call ansteht. Derzeit ist Kathrin* eine von drei Hauptamtlichen im Projekt und wirkt bei der Arbeit produktiv, strukturiert und effizient. Doch im Gespräch mit Tomi nimmt Kathrin* sich Zeit, achtet darauf, dass er sich wohlfühlt und keine Missverständnisse entstehen. „Wir beide kennen uns schon so lang, wir haben unsere eigene Kommunikation”, erklärt Kathrin*.

Bei Queerhome* berät Kathrin* wohnungslose LSBTIQ+, organisiert Sensibilisierungs-Projekte und vernetzt Betroffene und Helfer*innen. Der Senat schätzt, dass rund 10.000 queere Personen in Berlin wohnungs- oder obdachlos sind. Doch es gebe nicht genug queersensible Anlaufstellen, meint Kathrin*: „Dieses Jahr haben wir schon 750 Anfragen bekommen. Das ist für eine so kleine Beratungsstelle einfach Wahnsinn.” Oft fehle die Zeit, um alle Anfragen zu bearbeiten oder die Klient*innen individuell bei der Suche zu begleiten. „Wir können sie nur weiterleiten und hoffen, dass sie selbst in der Lage sind, die Wohnungssuche anzugehen.”

Keine Unterstützung für die Miete

Auch Tomi war in den ersten Jahren der Wohnungslosigkeit auf sich gestellt. Bekannte halfen ihm, zunächst in einem Wagendorf unterzukommen. Von dort aus begann er die Wohnungssuche. „Zwischendurch hatte ich ein Zimmer bei einem Freund angemietet, aber da wurde ich wieder rausgeschmissen”, erzählt Tomi. Eigentlich habe er über die Grundsicherung Geld für die Miete erhalten sollen. Der Anspruch auf Unterstützung als Bedarfsgemeinschaft wurde jedoch nicht anerkannt, weil das Gericht vermutete, er habe ein sexuelles Verhältnis mit seinen Mitbewohnern. „Die haben tatsächlich gesagt, wir würden da praktisch Orgien feiern”, schildert er, immer noch völlig verständnislos. „Dieses gesamte Verfahren beruhte auf homophoben Vorwürfen gegen mich.”

Das sollte nicht sein letzter Gerichtsstreit bleiben: Auch die Miete für seinen Wagenplatz wurde jahrelang nicht gezahlt, zudem wehrte er sich gegen Anzeigen seines Ex-Partners. „Er hat mich beim Grundsicherungsamt denunziert, wegen Urkundenfälschung und Sozialhilfebetrug”, sagt Tomi. „Da waren auch völlig absurde Unterstellungen dabei, zum Beispiel, dass ich ein Internet-Sexportal betreibe.” Erst nach mehreren Jahren wurden die Vorwürfe fallengelassen.

„Ich war nur noch glücklich”

Im Herbst 2024, nach zehn Jahren ohne festen Wohnsitz, lebte Tomi noch immer im Wohnmobil – ohne Heizung und in Gesellschaft einer Wanderratte, die sich in die Dämmung gefressen hatte. „Ich bin sie einfach nicht losgeworden. Einmal ist sie sogar mitten in der Nacht auf mich draufgesprungen. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, hab nur noch geheult. Es ging nicht mehr.” Doch schließlich zeichnete sich ein Ende ab: Mit der Unterstützung von Queerhome* und der Schwulenberatung gelang es Tomi, eine Wohnung im Geschützten Marktsegment zu ergattern. „Nach dem Einzug habe ich einfach zwei Wochen lang fast ohne Möbel, nur mit meinem Bett, dem Herd und der Spüle in dieser Wohnung gelebt”, sagt er. Das Einrichtungsgeld vom Jobcenter habe auf sich warten lassen, aber trotzdem: „Ich war nur noch glücklich.”

„Diese Wohnungen sind für Menschen gedacht, die auf dem freien Markt keine Chance haben”, erklärt Kathrin*. „Aber es gibt davon bisher viel zu wenige.” Von der Senatsverwaltung, die Queerhome* seit 2022 finanziert, kommt keine zusätzliche Unterstützung. Im Gegenteil: Im Zuge der Sparmaßnahmen werden dem Träger Sonntags-Club 80.000 Euro gestrichen. Bei Queerhome* fehlen dadurch Gelder, die bisher an Honorarpersonen und Ehrenamtliche geflossen sind. „Die Hilfsangebote der Wohnungslosenhilfe müssten wachsen statt schrumpfen!”, kritisiert Kathrin*. Es sei frustrierend, wie viele Menschen auf der langen Suche nach Wohnraum ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssten.

Tomi sei das beste Beispiel. „Da waren so viele Leute beteiligt, und trotzdem hat das so lange gedauert. Aber am Ende waren nicht wir von Queerhome* der Grund, dass du die Wohnung bekommen hast.” Kathrin* wendet sich an Tomi: „Das warst du selbst, weil du einfach durchgehalten und so unfassbar viel geschafft hast.” Tomi sieht verlegen zur Seite, winkt ab. Aber er wirkt auch ein bisschen stolz.


Foto: Aleksey Cherenkevich