Im Belgrader Block 70 leben viele Menschen chinesischer Herkunft. Serbien ist für Peking ein wichtiger strategischer Partner für das Jahrhundertprojekt einer neuen Seidenstraße. Auch für andere geopolitische Akteure ist Serbien von großer Bedeutung.
Yulan* lächelt höflich, als sie mir einen Plastikbecher mit kaltem Leitungswasser und Bāozi auf den Tisch stellt. Draußen, vor ihrem Imbiss, brennt die heiße Augustsonne erbarmungslos auf den Asphalt. Der Straßenlärm der sechsspurigen Jurina Gagarina dringt durch die großen Fenster in den Laden. Über die Fassade ziehen sich verblasste Bilder von Eintöpfen und Dumplings.
Yulan steht hinter der Theke, sie schmeißt ihren kleinen chinesischen Imbiss alleine. In dem Moment, als ein Kunde den Laden betritt, hellt sich ihr Gesicht auf und sie begrüßt ihn herzlich. Einen Augenblick später ruft sie mit ernster Miene und strenger Stimme nach ihren Kindern, die im Nebenraum spielen. Ihre Freundlichkeit ist eine professionelle Maske, die sie mühelos aufsetzt und ablegt. Sie ist in ihren Vierzigern, hell geschminkt und wirkt mit ihrem engen Kleid und ihrem aufrechten Gang wie aus einer anderen Zeit.
Während ich meine Bāozi in Sojasauce ertränke, kommt sie an meinen Tisch und ruft ihre Tochter zu uns, die übersetzen soll. Yulan fragt, woher ich komme. Sie ist überrascht, dass sich jemand in diese Gegend fernab des touristischen Zentrums Belgrads verirrt, der weder serbisch noch chinesisch spricht. Auf meine Rückfrage hin erzählt sie mir, dass sie ursprünglich aus der Provinz Jiangsu kommt, aus der Nähe von Shanghai.
Von Jiangsu nach Belgrad
Wie Yulan kamen hier im Viertel viele in den Neunzigern aus der Volksrepublik China nach Belgrad. Der Block 70 ist heute das kulturelle Zentrum der chinesischen Community in Serbien. Im Schatten der in den Himmel ragenden Plattenbauten reihen sich in einer grünen Markthalle kleine inhabergeführte Läden aneinander. Neben ostasiatischen Lebensmitteln funkeln bunte Handyhüllen, es gibt Stofftiere und günstige Fußballschuhe zu kaufen.
Die Migrant*innen aus Fernost kamen in der Zeit des Milošević-Regimes nach Serbien. Auch wenn es kein formelles Abkommen zwischen den zwei Staaten gab, profitierten beide Länder von der Migration. Die jugoslawische Regierung erleichterte damals die Visamöglichkeiten – in der Hoffnung, dass den chinesischen Migrant*innen irgendwann auch chinesisches Kapital folgen würde. 
In vielen Fällen leiteten die ankommenden Menschen kleine Gewerbe, dabei entstanden neue Handelsrouten. Einige kamen direkt vom chinesischen Festland, andere verlagerten ihren Lebensmittelpunkt von Budapest oder anderen europäischen Städten, wo sich damals die Visabedingungen erschwerten, nach Belgrad.
Der enge Draht nach Peking
„Die 1990er Jahre, das war die Zeit der internationalen Sanktionen und viele Ladenregale waren leer“, erklärt die serbische Politikwissenschaftlerin Nina Marković-Khaze, die in Belgrad aufwuchs und heute in Australien lebt. „Ich ging damals mit meiner Mutter in die Neu-Belgrader Blocks, um Jeans oder was sonst gerade so fehlte zu kaufen. Der Buvljak (serbisch: Flohmarkt) war der place to go! Chinesische, rumänische, türkische und bulgarische Verkäufer kleideten damals die Bevölkerung.“
Die chinesische Seite profitierte von der Migrationsdynamik durch ihren wachsenden Einfluss aufgrund neuer Handelsbeziehungen. International zunehmend politisch isoliert war China einer der letzten Verbündeten Jugoslawiens, wie Miloševićs symbolischer Pekingbesuch im Jahr 1997 verdeutlicht. Nur fünf Jahre später wurde der ehemalige serbische Präsident vor dem Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen wegen einer ganzen Liste an Kriegsverbrechen in Den Haag angeklagt. Zu einer Verurteilung kam es nie, da er noch in Haft starb. Heute gedenken China und Serbien noch gemeinsam den Bombardements auf die chinesische Botschaft in Belgrad durch die NATO.
Für Peking erscheint Serbien durch seine strategische Lage als Transitort in Südosteuropa als besonders günstiger Ort für Investitionen. Im Rahmen der Initiative der neuen Seidenstraße, die Asien über Land mit Europa verbinden soll, sind von chinesischer Seite Milliardeninvestitionen geplant. Schon seit über zehn Jahren überquert die Mihaljo-Pupin-Brücke die Donau. Als Zeichen der chinesisch-serbischen Freundschaft wurde sie bereits 2014 eröffnet. 85 Prozent des Kapitals wurden freundlicherweise aus China zur Verfügung gestellt. Die vielbefahrene Brücke ist heute eine wichtige Verkehrsachse Belgrads.
Hier zeigt sich der ambivalente Charakter der Volksrepublik China als Akteur in Serbien. Stellte der Staat vor dreißig Jahren noch billige Arbeitskräfte in Serbien zur Verfügung, ist Peking heute vor allem Kapitalgeber. In den Restaurants von Block 70 trifft die neue Generation einer SUV-fahrenden, aufstrebenden Mittelschicht auf die Händler*innen, die bereits seit den 90ern in Serbien leben. Im Jahr 2022 wurde in Zrenjanin, etwas mehr als eine Autostunde von Belgrad entfernt, eine der größten Reifenfabriken Europas aus dem Boden gestampft. In den Hallen des chinesischen Herstellers Linglong Tires schuften vietnamesische Arbeiter*innen, da chinesische Arbeitskräfte inzwischen zu teuer geworden sind.
Proteste gegen die Korruption
Seit im November 2024 das Bahnhofsvordach in Novi Sad eingestürzt ist und mehrere Menschen ums Leben kamen, befindet sich ganz Serbien im Ausnahmezustand. Landesweit gehen Menschen auf die Straße. Sie machen für das Desaster die fahrlässige Politik der serbischen Regierung verantwortlich. Betraut mit den Bauarbeiten am Bahnhof waren die China Railway International und China Communications Construction Company.
Pavle, den ich auf einer Antikorruptionsdemo in Belgrad treffe, schürt deshalb keine Ressentiments. Weder gegen China noch gegen den Einfluss der Europäischen Union. Schuld an dieser Katastrophe sei die Korruption der eigenen Regierung, und dieses Problem existiere schon viel länger als 2024. Wie viele aus der zivilgesellschaftlichen Opposition ist er eher progressiv eingestellt: „Ich war schon immer ein linksliberaler, pro-europäischer Typ, auch schon vor den Protesten.“
Angst vor Repressionen hat Pavle aber nicht. Auch wenn er Menschen kenne, die bei Straßenblockaden kurzfristig festgenommen wurden. „Die Menschen in Serbien wissen einfach, dass sich in der nächsten Zeit etwas verändern muss. So wie es gerade läuft, kann es nicht ewig weitergehen.“
Europäische Interessen auf dem Balkan
Auch für westliche Staaten, und insbesondere für den Automobilstandort Deutschland, ist Serbien mit seinen Lithiumvorkommen attraktiv. Da wird schon mal darüber hinweggesehen, dass einem auf serbischer Seite ein Präsident gegenübersitzt, der schon zwischen 1998 und 2000 als Informationsminister die Pressefreiheit massiv einschränkte.
Vučić hat mit seinem Opportunismus aus der Not eine Tugend gemacht. Früher ging von der geopolitischen Lage an der Frontlinie der unterschiedlichen Machtsphären noch eine Gefahr aus. Heute streckt der serbische Präsident seine Antennen gezielt in alle Richtungen aus. Er verspricht sich davon solide internationale Beziehungen und Kapitalfluss aus dem Ausland.
Einstweilen bleiben die positiven Effekte der ausländischen Investitionen für die breite Bevölkerung aus. Dies liegt mitunter an den erheblichen Korruptionsproblemen: 2024 schnitt Serbien mit 35 von 100 Punkten im Corruption Perceptions Index (CPI) von Transparency International deutlich schlechter als der europäische Durchschnitt ab.
Auf dem diplomatischen Parkett wiederum ist die serbische Führung mit ihrer Strategie durchaus erfolgreich. War Belgrad nach dem Zerfall Jugoslawiens noch international isoliert, werden heute gleichermaßen Regierungsvertreter*innen aus der Europäischen Union und der Volksrepublik China eingeladen. Noch im vergangenen Jahr empfing der autokratische Präsident Aleksandar Vučić sowohl den chinesischen Staatschef Xi als auch den damaligen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Seit 2012 ist Serbien sogar Beitrittskandidat für die EU. Doch steht eine autoritäre Politik, die allein auf den Selbsterhalt der politischen Führung ausgelegt ist und so grundlegend an den Bedürfnissen der eigenen Bevölkerung vorbeigeht, auf wackeligen Beinen.
In Belgrad prallen Welten aufeinander
Am Ende eines langen Sommertags in Block 70 begrüßt mich Nataša in einem gehobenen Restaurant am Rande des Viertels im Casual Business Look. Sie wohnt seit sie 14 ist in Neu-Belgrad und arbeitet heute für ein italienisches
Unternehmen. Nachdenklich hält sie sich an ihrem Orangen-Grapefruit-Saft fest, während sie in 30 Jahren Erinnerungen schwelgt.
Ob es damals rassistische Vorurteile gegenüber den Neuankömmlingen im Viertel gab? „Daran kann ich mich eigentlich nicht erinnern.“ Viele hier empfänden die chinesischen Migrant*innen als Bereicherung. „Ich habe einige Freund*innen, die gerne gut kochen und dann gezielt für bestimmte Zutaten hierherkommen. Manche Sachen gibt es eben nur hier. Außerdem gab es eine Zeit, in der der Markt in Block 70 deutlich günstiger war als die Ladenpreise sonstwo. Inzwischen ist er aber leider genauso teuer wie die Preise in regulären Geschäften“, erzählt Nataša.
Wie die Preise auf dem Markt, änderten sich auch die auswärtigen Beziehungen des Landes. Nataša gibt zu bedenken: „Serbien lebt seit jeher von seinen unterschiedlichen kulturellen Einflüssen.“ Während der Norden mit seiner herrschaftlichen Architektur maßgeblich durch den Einfluss der Habsburger und Österreich-Ungarns geprägt sei, so wären im Süden die Einflüsse des osmanischen Reichs sichtbar.
Daraus resultierten auch heute noch Widersprüche und Spannungen innerhalb des Landes. Die Hauptstadt Belgrad liege irgendwo dazwischen, hier prallen die unterschiedlichen Welten aufeinander. Und was bedeutet das für die Handelsbeziehungen? „Wir leben nun mal in einer globalisierten Welt“, findet Nataša. „Solange beide Seiten davon profitieren und sich wirklich etwas verbessert, ist jede Kooperation willkommen – egal ob mit China oder der EU.“
*Name von der Redaktion geändert
Fotos: Tobias Würtz.







