Im Herzen Kreuzbergs, am „Kotti” treffe ich mich mit Minos. Der in Berlin geborene Graffiti-Sprayer erzählt von seinem Weg zum Sprayen und der „Szene”. Wir sprechen darüber, wie Graffiti in der Gesellschaft verankert ist und über die Dynamiken in sozialen und öffentlichen Räumen.
Auf einem Pedal des Fahrrads stehend, rollt Minos näher heran. Schwarze Jacke, schwarze Hose. Ein Akzent: seine olivgrünen Nikes. Weiße Farbspritzer auf den Sneakern verraten seine Leidenschaft. Gemeinsam steigen wir die Metalltreppe hinauf und setzen uns an einen kleinen Tisch mit freiem Blick Richtung Kottbusser Tor. An einem Hochhaus haften die im Pichação-Stil gemalten Zeichen der Kreuzberger Crew Berlin Kidz. Doch auch die Wände um uns herum können sich der Graffiti-Kultur nicht entziehen. Sie sind übermalt mit hunderten von Tags. Direkt in unserem Nacken, die mobile Polizeistation.
Im Graffiti gibt es unterschiedliche Werkzeuge und Methoden der Kunst Ausdruck zu verleihen. Eine klare Grenze zieht die Legalität. Unter „Urban Art” werden detaillierte, kunstvolle, oft große Projekte verstanden. Sie finden in der breiten Gesellschaft Anerkennung und tauchen vermehrt in Galerien auf. Sprayer*innen an der „Hall” bedienen sich oft Techniken der illegalen Szene, die durch ihr beschränktes Zeitlimit geprägt sind. Bei der Hall handelt es sich lediglich um öffentliche und legale Wände. Ohne den Zeitdruck und die polizeiliche Verfolgung entstehen an der Hall Meisterwerke.
Hinsichtlich der illegalen Szene erzählt Minos, dass Pieces die höchste Kunst seien, da sie immer besser werden könnten. Pieces sind ausgearbeitete Schriftzüge, Symbole und Buchstabenkombinationen. Meist mehrfarbig, mit Schattierungen, Highlights, Hintergründen und stilistischen Details. Für viele Leute aus der „Straßenszene” fange es mit Tags an, gefolgt von Bombings, Throw-Ups und zuletzt Pieces. In der Regel werde von den Sprayer*innen nicht nur eine der Methoden genutzt.
Der Weg zum Graffiti
„Mein Vater hat eine CD dagelassen von Warren G. Das hat mich irgendwie gecatched,” erzählt Minos. Das war sein erster Zugang zum Hip-Hop, dessen Kultur er als Ort für entwurzelte Menschen versteht. Ganz ähnlich sieht es mit Graffitis aus.
Die Ursprünge der Graffiti-Kultur, wie wir sie heute kennen, liegen im Philadelphia der 1960er-Jahre. „Sprayer” oder auch „Writer” genannt, haben dort mit dem „Tagging” angefangen. Im großen Stil hat sich Graffiti erst in New York entwickelt, in den 1970er Jahren. Geprägt durch die wirtschaftliche Stagnation in den Staaten, stieg die Arbeitslosenquote rapide an. Viele Arbeitsplätze wurden gestrichen und die Gelder für öffentliche Institutionen gekürzt. Aufgrund des vorherrschenden Rassismus waren vor allem Schwarze Menschen betroffen. Gerade Jugendliche hatten keine Perspektive. Die Folge war eine Suche nach Identität und Zugehörigkeit, die sich in der Formierung von Gangs äußerte. Unterschiedliche Gruppen markierten ihre „Reviere” mit Tags. Es war ein Kampf untereinander, aber auch eine Form der Selbstermächtigung gegen die soziale Ausgrenzung innerhalb der Stadt.
Während die Hip-Hop Kultur für viele ein Weg zur selbstbestimmten Identität war, sieht es für Minos ein bisschen anders aus. Obwohl Sprayen sein Leben prägt, lehnt er eine Identifikation mit der Kultur ab. Für ihn sei eine solche Identifikation eine Sackgasse, da er sich ständig neu definiere. Mittlerweile sprüht er seit sechs Jahren in Kreuzberg, aber auch in anderen Berliner Bezirken. Wenn er im Schleier der Nacht loszieht, geht es ihm hauptsächlich um das Weiterentwickeln seines Stiles und darum, die Kultur voranzutreiben. Außerdem ist es ihm wichtig, Raum zurückzugewinnen und sichtbar zu sein. „Vor allem in den Anfängen, wenn du rausgeht und es illegal machst, dann bist du richtig unter Strom.”
Seitdem Minos aktiv ist, nimmt er die Stadt anders wahr. Durch die Möglichkeit, Raum mitzugestalten, entwickelte sich das Gefühl, dass die Stadt „sein Ort” ist. An vielen Ecken sind seine Pieces zu sehen. Er erzählt aber auch von anderen Writern und ihren neuen Pieces sowie von denen, die mittlerweile verschwunden sind. Das bewusste Wahrnehmen der eigenen Umgebung ist eine 24/7-Beschäftigung. „Ich fühle mich auch nicht so wohl an Orten, sobald kein Graffiti da ist. Irgendwas finde ich dann immer komisch, auch nicht unbedingt schlecht, aber es fühlt sich ungewohnt an. Es ist, als wären die Menschen gar nicht da.”
Soziale Räume in der Szene
Auf die Frage, ob die Graffiti-Szene eine gemeinsame Community ist, antwortet Minos zwiegespalten: „Das wäre schön, aber das ist nicht so. Graffiti zieht sich durch viele verschiedene Communities, die sich teilweise dadurch verbinden.” Doch besonders in Berlin herrschen Machtstrukturen, die spaltend wirken.
Gerade sieht Minos einen Wandel in der Berliner Szene. Beispielsweise wird das Crossen – das Übermalen der Pieces von Anderen – nicht mehr auf einer künstlerischen und stilistischen Ebene, sondern durch physische Gewalt untereinander ausgetragen. Vermehrt sind es jüngere Menschen, die das Verhalten und die Aussagen ehemaliger bekannter Writer imitieren. „Einige denken, sie sind krass, wenn sie die meisten Leute geschlagen oder abgezogen haben.”
Gleichzeitig sind Beziehungen in der Szene eng verwoben. Minos erklärt, dass das Sprayen sehr verbindend sein kann. Sobald er an einen anderen Ort reist, geht er zuerst zum Graffiti-Store. Über das Sprayen sei es leicht, mit Leuten in Kontakt zu kommen, die ein ähnliches Mindset haben. Sobald die Writer eine gemeinsame Aktion starten, intensiviere sich die Beziehung. Hierbei spielt die Illegalität eine große Rolle, denn bei unerlaubten Aktionen braucht es ein sicheres Vertrauensverhältnis.
Graffiti als Teil der Gesellschaft
Der vermeintlich öffentliche Raum ist häufig nicht wirklich öffentlich. Zumeist geregelt und eingeschränkt durch den Staat oder jene mit genügend Kapital. Gesellschaftliche Mitgestaltung findet stets unter definierten Rahmenbedingungen statt. Gerade in Großstädten wie Berlin zeigt sich die Verknappung des öffentlichen Raumes. Immer mehr Raum wird privatisiert oder durch den Verkehr eingenommen. Ist die Stadt und ihr öffentlicher Raum überhaupt noch für Interaktion und Kommunikation da?
„Die Hauswand muss sich jeder anschauen. Kann ich nicht mitentscheiden, wie die aussieht? Warum soll der Typ, nur weil er mehr Geld hat, entscheiden können. Wenn er keinen Bock darauf hat, kann er sie wieder weiß streichen.” Das Sprayen an sich sieht Minos nicht als politischen Akt, denn wenn er politisch etwas bewegen will, gibt es andere Wege. Natürlich kann es politisch erscheinen, wenn sein Piece die Hauswand eines Eigentümers überdeckt. Doch manchmal sollten sie es nicht so persönlich nehmen, so der Writer.
Doch wer darf jetzt den öffentlichen Raum gestalten? Minos sieht das Sprayen nicht als Akt der Inbesitznahme, sondern als eine symbolische Praxis gegen Besitz. Für wen der Raum genau gestaltet wird, ist schwer zu sagen. Zuletzt kann er nur für sich selbst sprechen: „Ein spezielles Problem in der Graffiti-Szene ist, dass alle sehr individualistisch sind”. Hauptsächlich gehe es beim Sprayen um das Selbst, die Freunde und die Szene. Doch wir alle seien ein Organismus, hätten ein Bewusstsein, lebten zusammen und lernten voneinander. Das sich alles beeinflusse, könne nicht verhindert werden, sagt Minos zum Ende unseres Gesprächs.
Foto: Minos







