Was passiert, wenn man die Stadt nicht durch ihre Straßen, sondern durch ihre Stimmungen liest? Unser Autor begibt sich auf eine experimentelle Erkundung Berlins nach der Dérive-Methode von Guy Debord.

Wie fühlt sich eine Stadt an? Was leitet unsere Wege und Entscheidungen? Wo fühlen wir uns wohl, wo wollen wir schnell wegkommen? Dies sind die Fragen, mit denen sich die Methode der Stadterkundung beschäftigt, welche unter dem Namen dérive bekannt wurde. Erfinder der Methode ist der französische Philosoph und Filmemacher Guy Debord. Zusammen mit der von ihm gegründeten Gruppe der Situationisten, einem losen Zusammenschluss aus sozialistischen Revolutionär*innen, Künstler*innen und Intellektuellen, versuchte Debord mithilfe von Dérives, urbane Räume neu zu verstehen und zu erforschen. Kann diese Methode aus den 1950ern auch heute noch angewendet werden, spannende Erfahrungen und aufschlussreiche Ergebnisse hervorbringen? Einen Versuch ist es wert.

Startpunkt meines Dérives ist der Haupteingang des HU Campus Süd. Stadterkundung bedeutet immer wieder Entscheidungen treffen. Biege ich nach links ab oder nach rechts? Hauptinteresse eines Dérive ist die Psychogeografie, sprich die Art und Weise, wie Architektur und andere Elemente der Stadt uns emotional in bestimmte Richtungen ziehen und unseren Gefühlszustand beeinflussen. Mich zieht es in dem Moment nach links, Richtung Humboldt Forum. Mehr interessante Gebäude, die auch näher sind als rechts, Richtung Brandenburger Tor. Unter den Linden ist aber auch eine sehr touristische Straße, immer wieder muss man fotografierende Gruppen umschiffen. Um dem zu entfliehen, zieht es mich in eine Seitenstraße zur Friedrichswerderschen Kirche. Eine kleine Oase der Ruhe, und doch so nah am Trubel. Außerhalb der Oase finde ich mich leicht rechts vor dem Auswärtigem Amt wieder.

Debord empfiehlt schriftliche Beschreibungen teilweise kryptisch-poetisch und kurz zu formulieren, ganz im Sinne des französischen Sprichworts „la poesie est dans la rue”, die Poesie liegt auf der Straße. Die zentrale Beobachtung in Berlin-Mitte:

Bundesadler, mal hinter Glas, mal auf goldenem Metall, seine Augen und Krallen überall.

Treiben lasse ich mich vor allem von der Architektur, von ansprechenden Gebäuden und Fassaden. Eine moderne schwarze Glasfront, zur Straße gerichtet, versteckt die seitliche alte Fassade, dessen gelb-roter Farbton mich in die Seitenstraße zieht. Großes Taubenfüttern am Hausvogteiplatz. Baustellen auf der Anton-Wilhelm-Amo-Straße und darüber hinaus. Offener Platz am Gendarmenmarkt. Bebäumte Sitzmöglichkeiten am französischen Dom als Einladung zum Ausruhen. Nehme ich gerne an.

Ein weiterer Grundsatz des Dérive ist es, sich von seinen üblichen Gewohnheiten und Beziehungen zur Umgebung zu trennen. Entgegen meines Prinzips, touristische Hotspots so gut wie möglich zu meiden, treibt es mich letztendlich zum Brandenburger Tor. Zeit für einen Ortswechsel. Die Situationist*innen sind hierfür in Taxis gestiegen und haben es den Fahrer*innen überlassen. Ich entscheide mich lieber für Würfel und die Öffis. Alea iecta est, die Würfel sind gefallen, und sie bringen mich leider nicht weit, und dann auch noch zu einem anderen Touri-Hotspot: dem Alexanderplatz.

Der Alex ist definitiv ein „so-schnell-wie-möglich-weg-von-hier”-Ort. Psychogeografisch betrachtet, löst der Ort in mir Gefühle aus, die mich abstoßen. Hier fühle ich mich unwohl. Flucht zum breiten und doppelseitig bebäumten Fußgängerweg auf der Karl-Marx-Allee. Ein Baum trägt noch Blätter, der Rest ist kahl.

Москва Restaurant, Sowjet-Flair, Hochhaus-Meer. Seitenstraßen wenig einladend, also immer weiter die Straße runter. Straußenberger Kreisel, Sonne tanken, Tschick rauchen. Ein weiterer doppelbebäumter Weg zieht mich von der großen Straße weg. Wohnviertel, der Klang spielender Kinder, ein albanischer Adler hängt vom Balkon herunter. Nicht so schnell, wenig kommerziell.

Etwas weiter die Straße runter ändert sich das Gefühl schlagartig. Hohe Bauten rauben jegliche Sonne, kaum Bäume. Riesige Baustellenprojekte mit bedrohlichen Hammerschlägen und Kränen als Horror-Symptome der hier voranschreitenden Hochhaus-Gentrifizierung. Es treibt mich schnell weg, am Horizont ist wieder die Sonne, die Spree ist auch zu erahnen. Über die Schillerbrücke geht es vorbei am Yaam, einem beständigen Ort der Subkultur am Ostkreuz. Der Verdi-Backsteinbau am Wasser versprüht etwas Hamburg-Flair. Eine Kirche in der Ferne zieht mich an. Auf dem Weg dorthin, eine willkommene Überraschung: Ich finde das Baumhaus an der Brücke, ein ungewöhnlicher Ort, mit spannender Geschichte, von dem ich vorher nur gehört hatte. Hinter der Kirche ein kleiner Park mit Hundewiese, ein weiterer Ort zum kurzen Verweilen. Rattan-Stuhl zum Verschenken am Straßenrand.

Rio-Reiser-Platz, mal Sprüh-Signatur, mal Menü-Tafel, tausend Logos.

Beim langen Spaziergang durch Berlin erlange ich nebenbei auch Erkenntnisse über die geografischen Verhältnisse der Orte, die ich schon kenne, aber nie im Verhältnis betrachtet hatte. Wer sich, so wie ich, meist nur mit Öffis durch die Stadt bewegt, verliert den Bezug zu den eigentlichen Distanzen und Lagen zwischen den Kiezen, den Übergängen.

Skalitzer Straße ein erneuter Stressor. Hupen, Sirenen, Menschenmassen. Wieder will ich nur schnell weg. Der Dérive hat gezeigt, dass eigentlich überraschend viele Straßen der Millionenmetropole Berlin entspannt sind, der Trubel sich auf wenige Plätze und Ecken konzentriert. Ich suche mir eine Nebenstraße, um ins Café zu gehen. Zimtlatte und Brownie, Reflexionszeit. Das Verweilen dauert länger als erwartet und die Kost liegt schwer. Dieser Umstand und die frühe Winterdunkelheit führt zum natürlichen Ende des Dérives.

Als Werkzeug, die Stadt neu zu entdecken, hat Guy Debords Dérive nicht von seiner Faszination verloren. Wenn man die üblichen Routen und Routinen abstreift und sich ganz auf die psychogeografischen Strömungen einlässt, öffnet sich die Stadt ganz neu. Straßen, die man längst zu kennen glaubte, erzählen plötzlich neue Geschichten; unbekannte Ecken bieten Einladungen an.

Ich war diesmal allein unterwegs, doch eigentlich empfiehlt Debord, sich in kleinen Gruppen treiben zu lassen, damit man später vergleichen kann, wohin einen die Stadt jeweils getragen hat. Also: Schließt euch zusammen, zieht los, und schaut, was die Stadt mit euch macht. Lasst euch treiben. Dérive, dérive, dérive. Denn die Poesie liegt auf der Straße.


Illustration: Lucia Maluga