Was bedeutet es, als Erste*r in der Familie zu studieren? Und was hat das mit dem Thema Mut zu tun? Diese Frage habe ich nicht nur mir selbst, sondern auch anderen Student*innen in Form einer Umfrage gestellt. 

„Informier dich besser, lies mal so ein Modulhandbuch, so viel mehr können die anderen auch nicht.“ Das rät ein*e Teilnehmer*in auf die Frage, wie sich Arbeiter*innenkinder an der Uni besser orientieren können. So einfach, wie die Person es hier beschreibt, ist es definitiv nicht. Kinder aus Haushalten, in denen die Eltern studiert haben und potentiell auch finanziell besser gestellt sind, sind nicht automatisch besser qualifiziert. Dennoch haben sie einen Zugang zur akademischen Welt, der sich grundlegend von dem von Arbeiter*innenkindern unterscheidet. 

 Laut Hochschulbildungsreport beginnen 74 Prozent der Kinder aus Akademiker*innen-Haushalten nach dem Schulabschluss ein Studium, während es bei Arbeiter*innenfamilien nur 27 Prozent sind. Dieser „Bildungstrichter“ führt aber noch weiter: 76 Prozent der studierenden Arbeiter*innenkinder schließen ihr Bachelor-Studium ab, während es bei den Akademiker*innenkindern 82 Prozent sind. Woran liegt das? 

 In der Umfrage zeigt sich: Die größten Herausforderungen für Arbeiter*innenkinder an der Uni sind finanzielle Sorgen, Stress mit dem BAföG-Amt, fehlender familiärer Rückhalt und das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören. Das liegt auch am akademischen Vokabular, mit dem viele vor dem ersten Semester keine Berührungspunkte hatten. 

Beratungsstellen an Unis

 An den meisten Universitäten gibt es offizielle Beratungsstellen für Student*innen aus Arbeiter*innenfamilien. Doch diese Angebote wahrzunehmen, ist nicht immer einfach. In der Umfrage antwortet eine Person auf die Frage, was sie sich von der Universität wünsche: „Einen leichteren Zugang zu Anlaufstellen, wenn man Fragen hat. Es ist oft mühsam, einen Termin bei Beratungsstellen zu bekommen, und man findet statt konkreter Hilfe nur dieselben allgemeinen Informationen.“

  Franziska Wetterling ist aktiv bei der ehrenamtlichen Organisation ArbeiterKind.de und beteiligt sich regelmäßig an offenen Treffen verschiedener Ortsgruppen in Berlin. Auch an der HU hat Arbeiterkind.de eine Hochschulgruppe. Durch den gemeinschaftlichen Charakter offener Treffen, in denen es besonders darum geht, dass Arbeiter*innenkinder sich gegenseitig unterstützen können, unterscheidet sich ArbeiterKind.de grundlegend von den klassischen Beratungsstellen an Unis. Im Gespräch erklärt Franziska: „Das, was du im familiären Umfeld nicht hast, das kann auch keine Beratungsstelle ersetzen. Ich glaube, dass sich viele Beratungsstellen an den Unis viel Mühe geben. Und auf die verweise ich immer gerne, weil sie konkretes Rechtswissen haben. Aber was wir können, ist, menschlich zu ermutigen und Erfahrungen auszutauschen.“

 Besonders bemerkbar machen sich soziale Unterschiede in Bereichen, in denen auch Beratungsstellen nicht unbedingt helfen können. Finanzielle Schwierigkeiten führen im Studium zu sozialem Ausschluss, wie Teilnehmer*innen der Umfrage verdeutlichen: „Als armutsbetroffener Student habe ich kaum die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe. Tagungen oder gar Auslandsaufenthalte sind unerreichbar, während es für alle Kommilitonen und Professoren völlig normal scheint.“ Außerdem klagen viele Student*innen über lange Wartezeiten beim BAföG-Amt, die es ohne Geld zu überbrücken gilt. Man würde lernen, People Pleaser zu sein. „Das Amt im Nacken, die Studienleistungen müssen erbracht werden und wer verklagt schon seine Eltern auf Unterhalt?“

 Ich habe gar kein Geld

 Das klischeehafte Bild vom „armen Studenten“ wird sich oft und gerne von Leuten angeeignet, die sich nichts unter tatsächlichen finanziellen Schwierigkeiten vorstellen können. Das muss nicht daran liegen, dass Leute böse Absichten haben, aber solange sie ihren Wocheneinkauf und ihr WG-Zimmer von den Eltern bezahlt bekommen, fühlen sich Beschwerden über „das arme Studenten-Leben“ für die unter uns, die gegen Ende des Monats ihr Konto überziehen müssen, trotzdem an wie ein Schlag ins Gesicht.

Wie spricht man solche Dinge aber an? Wie sagt man „Hey, ich habe kein Geld, um den Eintritt zu bezahlen, ihr müsst ohne mich gehen“? Wie spricht man über finanzielle Sorgen, die andere nicht nachvollziehen können, ohne Leute anzugreifen oder ihnen ihre Erfahrungen abzusprechen? Meistens gar nicht – und das ist ein Problem. Franziska Wetterling sagt dazu: „Manchmal bin ich in Umfeldern, wo das, was ich erzähle, als radikal ehrlich gelesen wird und dann fühle ich mich wie ein Störfaktor. Man rede nicht darüber, dass Menschen arm sind. Warum nicht?“

Mutig sein

Für mich bedeutet, über soziale Unterschiede und finanzielle Sorgen zu sprechen, mutig zu sein. Was bedeutet „Mut“ für andere Arbeiter*innenkinder?  

„Mut in meinem Studium heißt, sich zu öffnen. Nicht unsicher zu werden, weil man mal einen Fehler macht oder jemand anderes etwas total Schlaues sagt.“ (studiert Anglistik/Amerikanistik an der Uni Greifswald)  

„Der Mut umzuziehen, weit weg von der Familie und Freunden oder ins Ausland zu gehen. Das alles ohne finanzielles Sicherheitsnetz.“ (studiert Psychologie an der Goethe-Uni Frankfurt) 

 „Hausarbeiten wirklich zu Ende zu bringen und abzugeben, hat viel von mir abverlangt, weil ich das Gefühl hatte, mein Geschriebenes sei nichts wert.“ (studiert Soziale Arbeit und Gesundheit an der Hochschule Emden) 

 „Vor jeder Meldung, vor jeder Aussage, die ich getätigt habe, und vor jedem Mal fragen, ob ich in diesem Raum richtig bin, habe ich Mut gebraucht.“ (studiert Englisch und Philosophie an der HU Berlin) 

 „Ich finde das Wort Mut passt eigentlich zu jedem Tag. Vor allem als Arbeiterkind hat man, so meine Erfahrung, mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen und versucht immer, mutig zu sein, auch wenn man von den Eltern kaum Unterstützung hinsichtlich des Studiums bekommen kann.“ (studiert Jura an der Uni Heidelberg) 

 Ich darf Raum einnehmen 

 Dass Arbeiter*innenkinder oft vor anderen Herausforderungen stehen als Student*innen aus Akademiker*innen-Haushalten, bedeutet nicht, dass nicht alle irgendwann in ihrem Studium Mut aufbringen müssen. Ich denke aber, es ist wichtig, das „Imposter-Syndrom“, dieses Gefühl, einfach nicht richtig dazu zu gehören, das viele am Anfang ihres Studiums haben, nicht als isoliertes Phänomen, sondern als abhängig von unserem sozioökonomischen Hintergrund zu sehen. Organisationen wie ArbeiterKind.de können dabei helfen, sich mit den eigenen Problemen nicht alleine zu fühlen. „Ich finde es hilfreich, wenn viele Menschen an einem Tisch sitzen und miteinander ins Gespräch kommen, ihre Geschichten und Herausforderungen teilen. Andere Leute zu ermutigen, das macht auch mit dir selbst etwas“, erklärt Franziska Wetterling.

Ich persönlich habe mich mittlerweile im Uni-Leben eingefunden, besuche Seminare, die mir Spaß machen und habe ein Gefühl für das System bekommen. Bei mir hat es aber wirklich lange gedauert und ich musste immer wieder neuen Mut aufbringen, um tatsächlich das Gefühl zu haben: Ja, ich gehöre an die Universität, ich darf Raum einnehmen und habe genauso ein Recht darauf, hier zu sein, wie alle anderen.


Illustration: Flora Olivia Kühn