Wer ein Herz für Pferde hat, kommt in diesem Sommer in der Schaubühne auf seine Kosten. Doch bei ,,Michael Kohlhaas‘‘ geht es um weit mehr – etwa darum wie der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit einen rechtschaffenden Mann zum Vagabunden werden lässt. Ein Lehrstück über die Frage ob Recht auch immer gerecht ist.

,,Ich soll tun was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt gut ist.‘‘. Mit diesem Satz aus einem Brief Heinrich von Kleists an seine Verlobte Wilhelmine von Zange eröffnen Simon McBurney und Annabel Arden ihre Inszenierung des Heinrich von Kleist-Werkes ,,Michael Kohlhaas‘‘, die am 01.07.2021 an der Schaubühne Premiere gefeiert hat.

Alles beginnt mit sechs Schauspielerinnen und Schauspielern, die ganz in grau gekleidet auf der in grau gehaltenen Bühne stehen. Sechs Pulte, wie bei einer Lesung und die große Rückwand, auf die im Verlaufe des Stückes immer wieder Videosequenzen gestrahlt werden. Man fühlt sich zurückversetzt in die Zeiten des Deutschunterrichtes, als unter dem Lichtbildprojektor die zwei Rappen des Pferdehändlers Kohlhaas als Figuren auftauchen. Jene will Kohlhaas in Dresden verkaufen, wird aber an der Wegschranke der Tronkenburg auf sächsischen Grund mit Verweis auf einen Passierschein, den Kohlhaas nicht vorlegen kann, nicht durchgelassen. Dass Situationen wie diese einst eine Alltäglichkeit darstellten, will man sich in einem Europa ohne Grenzen fast überhaupt nicht mehr vorstellen. Nun, ohne Passierschein verlangt der Verwalter und sein Burgherr die beiden Pferde als Pfand von Kohlhaas, der als braver Bürger nichts mehr tun kann als seinen Knecht Herse bei den Pferden zu lassen und gen Dresden weiterzuziehen. Dort erfährt Kohlhaas, dass er hinters Licht geführt wurde – ein Passierschein existiert nicht.

Foto: Gianmarco Bresadola

Als er zur Tronkenburg zurückkehrt findet er die von der Feldarbeit zerschundenen Pferde auf, deren Mitnahme er verweigert. Heim, in Kohlhaasenbrück trifft er seinen Knecht Herse an, der von den Rittern und ihren Hunden verprügelt und vom Hofe gejagt wurde.  Hier könnte die Geschichte ihr Ende finden, doch Kohlhaas – dessen Schicksal auf einer wahren Begebenheit beruht – verfügt über ein ,,Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich‘‘ und das Bild der bis auf die Knochen abgemagerten Pferde, die in dieser Inszenierung ganz wunderbar von Lorenz Laufenberg und Moritz Gottwald verkörpert werden, nämlich nur in Unterwäsche auf allen Vieren und auf Krücken gehend  (eine Darstellung, die das Publikum laut auflachen lässt) lässt Kohlhaas nicht ruhen. 

,,Ein Mann, dessen Rechtsgefühl einer Goldwaage glich.‘‘

Zuerst auf ganz herkömmlichen Wege versucht er seine Forderungen geltend zu machen, nämlich durch Anklage beim Kurfürsten. Doch man weißt ihn schroff zurück, nicht zuletzt, weil das Rechtssystem dieser Zeit tief korrupt ist und an die Gewaltenteilung noch niemand gedacht hat. Als Kohlhaases Frau Lisbeth beim Versuch die Beschwerde erneut vorzubringen verletzt wird und an den Verletzungen stirbt, verstärkt sich Kohlhaases Drang zur finalen Gerechtigkeit ins Unermessliche und es ist eine grandios umgesetzte Symbolik, die die tote Lisbeth von der Bühnendecke gefilmt mit Schwert in der Hand, aber ohne Waage (!) als Gerechtigkeitsgöttin Justitia zeigt. Die Gerechtigkeit gestorben mit der Ehefrau. Nun wird Kohlhaas endgültig zum Berserker, ruft ,,zur Errichtung einer besseren Ordnung‘‘ auf und schart einen wütenden Mob um sich um für die finale Gerechtigkeit brandschatzend durchs Land zu ziehen. Am Ende wird er überlistet und in Berlin gehängt, bringt aber den sächsischen Kurfürsten durch das Zurückhalten einer Wahrsagerinnenprophezeiung noch zum Nervenzusammenbruch. 

Ist es unter Umständen richtig das Gesetz zu brechen?

Als der Vorhang fällt, ist man bewegt die Geschichte des Michael Kohlhaas kurzerhand zur Pflichtlektüre für sämtliche Deutschklassen der Oberstufe zu erklären. So stellen sich hier aus einer historischen Perspektive konkrete gesellschaftliche Fragen, die nach intensiver Befassung schreien: ist es unter Umständen richtig das Gesetz zu brechen? Welche Formen des Widerstands sind angemessen? Wie kann effektiver Widerstand geleistet werden? Gibt es ein Widerstandsrecht gegen ein offensichtlich korruptes System? Und schließlich jene Frage, die sich Kleist stellte, als er von dem Gedanken Abschied nahm ,,ein Amt zu nehmen‘‘: Muss ich tun, was der Staat von mir verlangt? Überhaupt sind es – wie so oft – die Wertmaßstäbe des Autors, die das Werk prägen. So formulierte von Kleist seine Abneigung gegenüber der Rechtswissenschaft einst mit einer konkreten Absage an die Vernunft: ,,Nicht die zweideutigen Rechte der Vernunft will ich studieren, an die Rechte meines Herzens will ich mich halten.‘‘. Da spricht doch der Kohlhaas selber will man ausrufen – denn hätte letzterer Vernunft walten lassen, hätte er sich doch mit seinem Schicksal abfinden müssen.

Die Fragen und Gedanken Kleists werden an diesem Abend jedoch ganz insbesondere durch die Leistung der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler transportiert, die mit der Liebenswürdigkeit eines Straßentheaters durch blitzschnelle Verkleidung immer wieder die Rollen wechseln und deren Szenenspiel wie eine große – und natürlich einwandfreie – Tanzchoreographie wirkt. Dabei sind sie mehr als Schauspieler und führen sogar die diversen Kameras ganz einwandfrei, was zu einer dreidimensionalen und mitreißenden Atmosphäre führt. Dazu kommen die intelligent eingesetzten audio-visuellen Effekte, von Bach-Chorälen über einer Luther-Projektion hin zu Mitschnitten von Polizeigewalt. Und obwohl es sich bei Michael Kohlhaas um einen düsteren Stoff handelt, gelingt es hier immer wieder auch Momente des Schmunzelns, ja des Lachens unterzubringen, etwa als auf das Stichwort ,,der Kaiser in Wien‘‘ ein Bild von Franz Beckenbauer erscheint oder die Adligen via einer scheinbaren Zoom-Konferenz über den Komplott gegen Kohlhaas beraten.

Lauscht man den Gesprächen des Publikums nach der Vorstellung, wird hier besonders die eindrückliche und perfekte Choreographie gelobt sowie die zum Teil fast spielerische Inszenierung des schweren Stoffes. Gelungen ist aber nicht nur die Inszenierung, sondern auch das Weiterspinnen und Vernetzen der Materie in und mit der heutigen Zeit – Mittel hierzu ist das Programmheft, in dem u.a. Whistleblower zu Wort kommen, von denen einer ernüchternd konstatiert: ,,Je mehr Geld man hat, desto mehr Recht kann man sich leisten.‘‘ 

Man merkt: Kohlhaas bleibt aktuell und Recht ist nicht immer gerecht.

 

Weitere Vorstellungen finden statt am 08., 09., 10., 11., 13., 14., 15., 16., 17. und 18.07.2021 sowie am 17., 18., 19., 20., 21. und 22.08.2021.

Dabei ist Eile geboten: für die meisten Vorstellungen im Juli gibt es nur noch Restkarten. Die Karten für die Vorstellungen im August sind noch leichter zu haben. Wie immer gibt es Rabattierungen für Studierende.