
Alle hören SSIO. Dabei verwundert besonders das politisch linke Lager. Hier hat der Rapper spätestens seit dem neuesten Album „Alles oder Nix“ gehörigen Beifall geerntet. Dabei pisst der Goldkettenträger mit maskuliner Attitüde auf unser aller Köpfe – entgegen jeglicher Moral. Oder?
Ein durchnässtes Unterhemd, die baumelnde Goldkette und der Drogenboss-Jargon. Was aussieht, wie der Albtraum eines konservativen Germanistik-Dozenten, ist eigentlich der Deutschrapper SSIO. Und den interessieren althochdeutsche Morphologie und Syntax herzlich wenig.
Ganz im Gegenteil: „Bin das Sprachrohr für Menschen mit starkem Dialekt“. Auf Kopfnicker-Beats erzählt uns SSIO auf seinem neuen Album „Alles oder Nix“ von Schlägereien mit Hipstern, Sex mit Feministinnen und kriminellen Geschäften im Block.
Wo bleibt der Aufschrei? Politiker*innen wie J.D. Vance, Maximilian Krah oder Alice Weidel haben uns doch so viel von grünhaarigen und kinderlosen Cat Ladys erzählt, die bei jeder Kleinigkeit Anfälle bekommen würden. Heutzutage dürfe man ja gar nichts mehr sagen.
Doch während die grünhaarigen Cat Ladys in der ersten Reihe bei Ikkimel und SSIO stehen, wedeln Anzug tragende Rechtspopulist*innen plötzlich mit dem Zeigefinger.
Denn SSIO provoziert. Regelmäßig nennt er sich den schwarzen Afghanen und stellt sich eben nicht als gut integrierten jungen Mann dar. Er karikiert das Feindbild rechter Parteien. In Macho-Manier betrügt er Senior*innen im Musikvideo zu „Dein Leben ist gefickt“ mit dem Enkeltrick. In den Ohren des Publikums schallt schon die nächste Brandrede Alice Weidels: Die bösen Migranten würden deutsche Rentner ihres hart erarbeiteten Vermögens bestehlen. Übrigens würden sich Frauen heutzutage auf den Straßen nicht mehr sicher fühlen. Der Grund? Männer wie SSIO: Männer mit Migrationshintergrund.
SSIO nimmt in seiner Selbstinszenierung all diese Argumente vorweg. Er reclaimt die Fremdzuschreibungen und demonstriert deren Absurdität. Wer SSIO in seinen Musikvideos zuschaut, seine Texte liest und die Marketing-Strategie verfolgt, der merkt, wie realitätsfern die Kunstfigur ist. Und mit der Kunstfigur auch die rechtspopulistischen Narrative, die sie parodiert.
Was bei Rap Gruppen wie K.I.Z immer schon klar war, scheint bei SSIO subtiler durch – die sarkastisch provokante Kunstfigur.
Im Interview mit Apple Music schlüpft der Rapper aus dieser Kunstfigur. Denn hier spricht plötzlich ein eloquenter Mann, der uns erklärt, dass freie Sprache eben nicht bedeute, mit unmoralischen Phrasen um sich zu werfen. Er gehe immer davon aus, dass das, was er auf Papier bringe, auch der wokeste Typ da draußen cool finden könne. Einfach, weil der Kontext ein anderer sei. In einem Rap Song geht es nicht darum, seine politischen Einstellungen zu schildern. Ein Rapper macht nicht immer auf neureichen Macker, weil er dem freien Markt verfallen ist. Er drückt damit ein gesellschaftliches Bedürfnis aus. Er will verändern und wüten.
Die Kunstfigur SSIO triggert den Frust einer linken Szene. Mit dem Kopf durch die Wand zeigt er, wer wirklich verkrampft ist. Wer hier wirklich eine Verbotskultur predigt. Und das sind nicht die Linken. Denn die grölen alle mit: „Feministen Mitte 20 sind im Gangbang Alter“!
Wer den Rapper anders verstehen will, darf mit den Augen rollen.
Foto: Nik Muller


