Wim Wenders wird 80! Das nehmen viele Berliner Kinos zum Anlass, sein Oeuvre in voller Breite rauf und runter zu spielen. Himmel über Berlin ist, wie der Titel bereits verrät, unwiderruflich mit der Hauptstadt verflochten. Mittlerweile hat der Film mehr als 35 Jahre auf dem Buckel: von seinem Hang zum Kitsch hat er aber nichts verloren. 

„What a load of pretentious bullshit!“ Mit diesen Worten verließen mein Vater und einige seiner Freunde im Jahre 1988 das Kino in Cambridge. Der deutsche Überraschungserfolg „Himmel über Berlin“, im englischsprachigen Ausland als „Wings of Desire“ bekannt, hatte seinen Weg bis nach Großbritannien gefunden, wo ihm, ähnlich wie in der BRD selbst, größtenteils positive Reaktionen entgegen schlugen. Aber nicht jeder war ein Fan: So berichtete die New York Times von einem überladenen, unfreiwillig unbeholfenen Film, welcher von einem bedeutungsarmen und selbstgefälligen Drehbuch geplagt werde. 

Nichtsdestotrotz ist der Film heutzutage populärer denn je; ein amerikanisches Remake mit Nicholas Cage („City of Angels“) sowie eine Fortsetzung von Wenders selbst („In weiter Ferne, so nah!“), beide im Schatten des Originals stehend, scheinen die ungemeine Anziehungskraft des Films nur zu verstärken. Unter anderem hat auch der Berliner Rapper Pashanim sein Debütalbum aus dem Jahr 2022 mit dem Titel „Himmel über Berlin“ versehen, da er laut eigener Aussage von der Erzählweise und Ästhetik des Films beeindruckt war. Hinzu kommt, dass der Film fast dauerhaft in zumindest einem Kino der Hauptstadt gezeigt wird. Neugierige Touristen, Filmliebhaber und Paare auf dem ersten Date zieht es allesamt zu dem Klassiker aus den 80er-Jahren, sodass Kinosäle immer noch regelmäßig prall gefüllt werden. 

Der Film erzählt von auf der Erde wandelnden Engeln. Allgegenwärtig und doch für das menschliche Auge nicht sichtbar. Anmutig schreiten sie durch schwarz-weiße Bilder von U-Bahnen, Filmdreh-Sets und der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz. Immer wieder bleiben sie stehen, blicken Passant*innen ins Gesicht und hören ihren Gedanken zu. Besonders dem Engel Damiel geht es dabei darum, im Wirrwarr der Stimmen ein Stück Leben zu fühlen. Im Riechen von Kaffee, beim Schmecken von Eis, durch das Erleiden von Schmerzen. In jedem Gedankengang, den das Kinopublikum mithören darf, steckt ein Teil des erwünschten Lebensgefühls. Ein Mann trauert der Zukunft seines Sohnes nach. Jedenfalls seiner Vorstellung davon. Ein Kind fühlt sich beim Spielen ausgeschlossen. Ein Selbstmörder empfindet vor dem Sprung von einem Hochhausdach lang ersehnte Erleichterung. Damiel und seine befreundeten Engel legen ihre unsichtbare Hand auf die, die mit ihren Gedanken alleine sind. Manchmal muntert das auf. Doch der Selbstmörder landet trotzdem in der Fußgängerzone unter dem Hochhaus. Dem zuständigen Engel entfährt ein Schrei. Als Damiel sich in eine Zirkusakrobatin verliebt, fasst er den Entschluss, kein Engel mehr sein zu wollen. Schmerzhaft erwacht er eines Morgens als Mensch, direkt neben der Mauer in West-Berlin. Glück gehabt! In der DDR hätte er seine Engelsrüstung kaum gewinnbringend verkaufen können, um die ersten Notgroschen zu verdienen. 

In großen Weltreligionen wie dem Buddhismus heißt es: „Leben ist Leiden.“ Dabei ist der Weg aus dem Leben in das ewige Nirvana das Ziel. Im Christentum will der Mensch vor dem jüngsten Gericht bestehen, um ewig im Paradies zu weilen. In Wim Wenders‘ Inszenierung wirkt es genau umgekehrt. Der Engel aus dem Paradies möchte leben und leiden. Eine Nacht auf den Straßen Berlins ohne Dach und ohne Besitz erkennt er dafür als geeignet an. Und endlich: eine Platzwunde, Kälte, billiger Kaffee aus einem Pappbecher, von Kindern angeglotzt werden. Das muss doch Leben sein. Auf den Straßen Berlins finden wir das Wesen des Menschen. Doch eine Nacht sollte dann doch bitte genug sein. Jetzt wäre eine Romanze ganz nett. Vielleicht zu der Zirkusakrobatin von vorhin? Dazu vielleicht noch ein bisschen mehr Startkapital und ein modisches Sakko. 

Der Ausflug Damiels gleicht einem frisch gebackenen Abiturienten, der Urlaub Pardon ein Auslandsjahr in Indien macht. Probehalber etwas leiden und einen Blick in ein wenig Armut erhaschen. So fühlt es sich an, zu leben. Aber eben nur, wenn man reiche Eltern zuhause sitzen hat, die einen mit offenen Armen zurück willkommen heißen. 

Der Film nimmt die Perspektive ein, dass wahrer Reichtum nicht im Status liegt. Da kann man ein Engel sein und ist nicht zufrieden mit seiner Position. Doch abschließend bleibt diese Perspektive ziemlich privilegiert. Für die meisten unter uns Sterblichen ist Lebensgefühl nämlich keine Sache der Wahl, sondern mehr oder weniger Glück.  

„Himmel über Berlin“ ist ein Kind der neoliberalen 80er Jahre – der Messias, der aus der eingeknickten Kino-Kultur der Nachkriegszeit führen sollte. Nachdem Deutschlands große cineastische Visionäre spätestens Mitte der 30er-Jahre das Weite gesucht hatten, versprach Wenders’ Vision eine Wiederauferstehung des deutschsprachigen Autorenkinos. Das Ergebnis: Eine schwarz-weiße „Alter-Mann-Ästhetik“, in die junge Männer heute noch gerne ihr erstes Date samt einem Matcha Latte und Jutebeutel entführen. Der Erfolg spricht für sich.


Foto: Wim Wenders Stiftung.