
Wer stiehlt unsere Zeit? Der Kapitalismus, glaubt man Ole Nymoen. Bei der Lesung seines neuen Buches „Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit“ diskutiert er die Frage, wie Menschen ihre Zeit verbringen und wer daran verdient.
Ein Systemfeind erklärt seinen Katzen, warum er verrückt wird. Tagtäglich beobachtet er aus seinem Fenster heraus Menschen, die unter Arbeit, Armut und Ausbeutung leiden. Ole Nymoen verpackt in seinem Buch marxistische Theorie in erzählhaftem Gestus. In der Publikumsdiskussion im Anschluss an die Lesung ersehnt er sich eine klassenlose Zukunft herbei.
Unsere Autor*innen Thordis Schreiber und Nicolas Bruggaier waren vor Ort und haben sich ihre eigenen Meinungen gebildet. Während Thordis Potenzial in den Ideen des Autors sieht, bleibt Nicolas skeptisch.
Thordis Schreiber
Ole Nymoens Buch richtet sich nicht nur an diejenigen, die wöchentlich im „Das Kapital“-Lesekreis sitzen. Es spiegelt eine Frustration mit den Arbeits- und Lebensbedingungen, wie sie viele Menschen kennen. Die Ursache für diese Frustration sucht es im Grundlegenden – dem System in dem wir leben.
Schwierige marxistische Terminologie sei im Buch mit Absicht weggelassen worden, sagt Ole Nymoen. „Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit“ wird damit zugänglich für eine breite Leserschaft. Denn, um zu erkennen, dass auf der Welt etwas nicht richtig läuft, muss man kein Sozialist sein.
Der Protagonist, der seinen Katzen von den Ungerechtigkeiten der Welt erzählt, ist verbittert und möchte nicht mehr mit anderen Menschen reden. Wie kann man es ihm verübeln, in einer Welt, die von Armut und Leid bestimmt ist und in der alle zu akzeptieren scheinen, dass es nunmal so ist? Es ist dieselbe Art von Verbitterung, auf die man oft stößt, wenn man mit denen spricht, die eine gerechte und glückliche Zukunft schon systemkonform aufgegeben haben.
Während viele Menschen mit Apathie auf die Welt reagieren, empfindet Ole Nymoen eine Analyse und ein Hinterfragen dessen, was in diesem System falsch läuft, als Trost. Die „Ellenbogen“ Mentalität und die ach so „natürliche“ Gegebenheit, Menschen stünden immer in Konkurrenz zueinander, ist uns vom Kapitalismus antrainiert worden, sagt er.
Das Werk ist keine direkte Aufforderung zur Revolution und das versucht es auch nicht zu sein. Vielleicht dient es zu einem großen Teil ebenfalls einfach nur zum Trost. Jedoch waren es stets radikale Ansätze wie die Nymoens, die große Veränderungen herbeigeführt haben. „Aktivismus ohne Traumtänzer“ hat es nie gegeben.
Sein Protagonist traut sich vielleicht nicht aus dem Haus, Ole Nymoen traut sich jedoch, in einer gerade zu dystopischen Welt ein Werk zu veröffentlichen, welches von utopischem Denken geprägt ist. Es stellt uns die Frage: Sind wir tatsächlich überzeugter vom kapitalistischen System oder haben wir Angst grundlegende Fragen zu stellen, die über Kulturkämpfe hinausgehen?
Nicolas Bruggaier
Am Ende macht Ole Nymoen nichts Neues. Marxistische Bestrebungen gibt es, seitdem es Marx gibt.
Und auf den ersten Blick klingt es immer schön: Das Leben könnte so einfach sein. Man stelle sich mal vor, jeden Tag aufwachen – ohne Wecker natürlich – nur für das eigene Essen arbeiten und alle Ressourcen auf der Welt gerecht verteilen.
Auf den zweiten Blick wird dann klar, dass es leider nur bei der Vorstellung bleiben kann. Denn wer entscheidet, welche Bedürfnisse wie wichtig sind? Wer entscheidet, wer welchen Job macht? Bestimmt wird es Menschen geben, die lieber auf dem Feld arbeiten, als Klärarbeit zu machen. Braucht es für die unbeliebten Jobs dann sowas wie Werbekampagnen? Von denen will Ole Nymoen auf Nachfrage aus dem Publikum nichts wissen: „Das sind Arbeiter*innen, die wir in wichtigeren Berufen bräuchten.“
Als Beispiele dafür nennt er Pflegekräfte und erstickt so weitere Diskussionen. Denn gegen die kann ja wirklich niemand was haben. Ole Nymoen schafft es, seine Punkte wie Konsens aussehen zu lassen. Alle wüssten doch, wie es eigentlich laufen sollte. SUVs brauche doch wirklich niemand. Damit ignoriert er zwar rund drei Millionen zugelassene SUVs in Deutschland, deren Fahrer*innen da bestimmt anderer Meinung wären, aber hauptsache das Argument ist schlüssig. So weicht Nymoen geschickt den Kernproblemen seiner Argumentation aus.
Immer mit dem Hinweis, man solle doch in die Welt hinausschauen. Es gebe genug Leid im Kapitalismus. Und das stimmt ja auch. Das heißt aber nicht, dass Sozialismus die einzige Lösung ist. Oder überhaupt eine Lösung.
Ein wenig Traumtänzerei mag Spaß machen, aber mit den Putin vor der Tür, Donald Trump im Nacken und der AFD im eigenen Haus gibt es vielleicht akutere Maßnahmen, die man ergreifen kann. Anstatt einer postrevolutionären Zukunft entgegen zu jubeln, könnte man über einen neuen Binnenmarkt in Europa sprechen. Unter Trump sieht es so aus, als wäre das unsere einzige echte Zukunftsperspektive. Soziale Reformen statt Revolutionen diskutieren. Wie agieren wir in der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden? Wie helfen wir mitten in dieser komplizierten Welt marginalisierten Gruppen?
Lasst uns mit unseren Katzen reden, meint Ole Nymoen. Die widersprechen immerhin nicht.
Foto: Nicolas Bruggaier


