Die Reaktionen auf die pro-palästinensische Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften zeigen für Toni* und einige seiner Kommiliton*innen: Es gibt noch zu wenige linke Perspektiven auf antisemitische Vorfälle an der HU. Sie gründen die Gruppe „Tacheles”, um diese Leerstelle zu füllen und jüdische Stimmen hervorzuheben und zu unterstützen.
„Viele Leute waren einfach nicht im Bilde“, erinnert sich Toni an die Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften der HU im Mai 2024. Für ihn waren die Proteste ein prägendes Erlebnis: Immer öfter höre er von jüdischen Student*innen, dass sie sich an der HU nicht mehr wohlfühlen. Aber gerade nach der Besetzung hätten ihm die antisemitismuskritischen Stimmen gefehlt. Für Toni und einige seiner Kommiliton*innen zeigte sich eine Leerstelle: Es gab noch keine dezidiert linke und studentische Gruppe an der HU, die sich ausführlich mit verschiedenen Perspektiven Betroffener auseinandersetzte. Die logische Schlussfolgerung: ein Selbstverständnis, in dem sie ihre Forderungen benennen, und dann die Gründung der Gruppe Tacheles.
Tacheles reden, das kommt aus dem Jiddischen und heißt zur Sache kommen, Klartext reden. Genau das hat sich die Initiative auf die Fahnen geschrieben: Sie will Gesprächsräume schaffen, in denen Betroffene zu Wort kommen, Bildungsangebote unterstützen und antisemitische Vorfälle nicht mehr unkommentiert lassen. Dabei ist es Tacheles wichtig, kritisch zu bleiben, auch sich selbst gegenüber – mit einer Gut-Böse-Dichotomie ist niemandem geholfen. „Wir wollen Antisemitismus und Rassismus nicht gegeneinander ausspielen“, sagt Toni. Ausdrücke wie „importierter Antisemitismus“ hält er für problematisch, dass Juden und Jüdinnen in Deutschland Anfeindungen erleben, sei ein kontinuierliches Problem. In ihrem Selbstverständnis betont die Gruppe, dass sie sich gegen Polizeigewalt positioniert und es Student*innen möglich sein sollte, das Notleiden der Zivilbevölkerung und die Kriegsführung in Gaza zu thematisieren. Doch „das bedeutet nicht, dass wir dafür antisemitische Äußerungen in Kauf nehmen müssen.“ Es gehe eben nicht nur darum, wer an welcher Stelle demonstrieren darf, sondern auch, welche Parolen auf Protesten gerufen werden.
Konstruktive Debatten statt Streit
Gerade nach der Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften war für Tacheles klar: Es muss mehr Bildungsangebote zu Antisemitismus und Antisemitismuskritik geben, für Lehrkräfte sowie für Student*innen. Die Initiative empfiehlt Seminare an der HU, veranstaltet aber auch eigene Events. Dafür hat Tacheles bereits Antisemitismus- und Nahostforscher*innen wie Jakob Baier, Marina Chernivsky und Tom Khaled Würdemann zu Vorträgen eingeladen. Gesprochen wurde über die Erscheinungsformen des Antisemitismus und die Folgen des 7. Oktobers, aber auch über die palästinensische Nationalbewegung. Unterstützt wird Tacheles dabei von der gemeinnützigen Amadeu Antonio Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus stellt. „Es kommt oft zum Streit, wenn man emotionalisiert aufeinanderprallt“, sagt Toni. Input von einer Person mit Expertise helfe dabei, Erfahrungen greifbarer zu machen und konstruktive Debatten zu führen, statt zu streiten.
Deshalb ist im Anschluss an die Vorträge Zeit für Diskussionen und Austausch. „Es geht nicht darum, eine Perspektive durchzudrücken“, betont Toni. Tacheles orientiere sich zwar derzeit an den Erfahrungen von Menschen, die Antisemitismus erfahren, aber: „Uns ist es wichtig, alle Betroffenenperspektiven zuzulassen. Menschen sollen ihre Wut und Verzweiflung äußern können, ohne direkt in einen politischen Kampf hineingezogen zu werden.“ Mit Tacheles wolle man einen Raum für offene Gespräche bieten und einen Diskurs auf wissenschaftlichem Niveau ermöglichen. „Wir wollen nicht mit dem Antisemitismusfinger rumlaufen und Leute brandmarken.“
Ideal wäre dafür eigentlich ein offenes Plenum, eine Art Stammtisch, aber dafür brauche es ein gutes Sicherheitskonzept. Jüdisches Leben müsse im Moment besonders geschützt werden, meint Toni, „da reicht ein Awareness-Raum nicht.“ Bisher habe es noch keine wirklich heiklen Situationen gegeben, aber es sei für Tacheles eine schwierige Balance, Sicherheit zu bieten und gleichzeitig niedrigschwellig zu bleiben.
Diskurse einordnen in der Theorie-AG
Um den Diskurs anzuregen, gibt es inzwischen auch eine eigene Theorie-AG, die sich regelmäßig trifft, um wissenschaftliche Texte und Essays zu besprechen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Themen veröffentlicht sie auf Instagram. Es geht um den Nahost-Konflikt aus der Perspektive der Rassismuskritik und Antisemitismuskritik, aber auch die Debatte um die Definition von Antisemitismus wird aufgegriffen. „Wir sind der Meinung, dass es vor jeder Auseinandersetzung wichtig ist, einzuordnen, worum sich die Diskurse überhaupt drehen“, schreibt die AG in ihrem ersten Post. Die Slides auf Instagram sollen nicht die Lektüre des Texts in voller Länge ersetzen, aber immerhin so anschaulich wie möglich einen Einblick in die „Kritik an Identitätspolitik und (hegemonialer) Rassismuskritik“ bieten.
Das Engagement bei Tacheles hat auch seinen Preis: Toni investiert neben dem Studium jede Woche mehrere Stunden in die Initiative, unter der ehrenamtlichen politischen Arbeit muss die Freizeit leiden. „Aber es macht ja auch Spaß“, betont er, und wer keine Kapazitäten hat, tritt mal eine Weile kürzer. „Das ist ja das Gute an einer Gruppe, die solidarisch getragen wird.“ Und an interessierten Student*innen, die die Gruppe in Zukunft unterstützen wollen, mangelt es nicht. Kürzlich hat Tacheles ein öffentliches „Get Together“ veranstaltet, um sich vorzustellen und über die Situation an der Uni zu reden. Die Resonanz war gut, ein paar Student*innen hätten sich schon gemeldet und ihre Unterstützung angeboten. Die brauche es auch für die Umsetzung zukünftiger Projekte, meint Toni: „Wir haben noch viele Ideen.“
*Name von der Redaktion geändert
Foto: Mara Buddeke