Der Titel lässt aufhorchen und hinschauen, erinnert stark an Dirk Oschmanns „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“. Jakob Springfeld will mit dem Titel vor allem provozieren. Das räumt er selbst gegen Ende der Lesung ein. Bei seinem Aufruf zur Versöhnung und zum Zusammenrücken gegen Ende der Lesung stellt er fest, dass das Land doch nicht so gespalten und die Fronten nicht so verhärtet sind. Welches Ziel verfolgt er also auf den mehr als 200 Seiten seines neuen Buches?
Der 22-jährige Aktivist und Autor aus Zwickau studiert Politikwissenschaft und Soziologie im Bachelor. Weder offenbart er neue soziologische Erkenntnisse, wie Steffen Mau, noch glänzt er mit Alterweisheiten, die Menschen mitbringen, die in der DDR aufgewachsen sind. Doch beim Zuhören wird klar, dass er diesen Anspruch nicht stellt und die Leser*innen eingeladen sind, das auch nicht zu tun.
Bei seiner Premierenlesung am 03. Februar in der Kulturbrauerei stellt er sein neues Buch “Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert” zum ersten Mal vor. Der kleine Saal ist gut gefüllt, rund 60 Menschen füllen alle Stühle und sitzen dicht an dicht auf den zusätzlichen Barhockern. Das Publikum ist größtenteils jung, mit manch älteren Ausnahmen. In der anschließenden Fragerunde stellt sich heraus, dass viele Zuhörer*innen aus Ostdeutschland kommen, die mit dem neuen Buch resonieren.
In seinem Buch will er sammeln – Erfahrungen, Einblicke in das Leben als Aktivist, Probleme und Ängste – und Wissen darstellen, aus seinem Blickwinkel als junger Ostdeutscher. Dabei gibt er kleine Abrisse von verschiedenen Themenfeldern, schreibt kein politisches Sachbuch, aber möchte seine Erlebnisse untermauern. Es wird von rechtsradikalen Übergriffen berichtet, wie rechte Kräfte die Medien nutzen und die Politik infiltrieren. Geboren mehr als zehn Jahre nach der Friedlichen Revolution kennt er nur ein geeintes Deutschland und die DDR aus Erzählungen. Die Nachwirkungen sind aber nicht zu übersehen, auch nicht in seinem Leben. Aus einer Betroffenenperspektive heraus will er Unterschiede anerkennen und Gräben überwinden, denn rechtes Gedankengut ist ein gesamtdeutsches Problem.
Wie auch schon in seinem vorherigen Buch „Unter Nazis: jung, ostdeutsch und gegen rechts” spricht er viel über die Gefahren aus der Rechten im allgemeinen, geht dabei auf Social Media, Kommunalpolitik, den Fachkräftemangel, den demographischen Wandel und politische Dammbrüche, wie Regierungen mit der AfD auf Kommunalebene, ein. Damit zeichnet er ein großes Bild der rechten Gefahr, die sich in unserer gesamten Gesellschaft finden lässt.
Bei seiner Lesung erzählt er immer wieder über geschockte, westdeutsche Gesichter, wenn er von seinen Erlebnissen berichtet. Die Gleichzeitigkeit der rechten Gewalt in Gesamtdeutschland und des Unwissens darüber würden ihm den Schlaf rauben. Zu selten blickten sie der Gefahr vor der eigenen Haustür ins Auge.
Alltag zwischen Demos, Unverständnis und der Angst vor der Zukunft
Neben diesen gesammelten Einblicken, die sich sicher auch in anderen Büchern finden lassen, bringt er seine eigene Lebensgeschichte mit und macht damit das Buch zu einem Hingucker. Springfeld wurde kurz nach den Baseballschläger-Jahren im ländlichen Sachsen geboren und ist während der Flüchtlingskrise in Zwickau aufgewachsen. Irgendwann fing er mit linkem Aktivismus in der ostdeutschen Kleinstadt an. Springfelds Schilderungen sind eindringlich. Es wird deutlich, wie weit die Gefahr rechter Gewalt in die Leben mancher Menschen hineinreicht. Er berichtet von körperlichen Angriffen, Drohschreiben an Briefkästen und Besuche von Gegendemonstrant*innen an den Wohnungen seiner Freund*innen. Die Verwicklungen zwischen erschreckenden Nachrichten, Orten des Horrors und seinem Leben hinterlassen beim Lesen ein Gefühl des Unwohlseins. Die Wohnung und Unterschlupf des NSU kennt er, weil sein Grundschul-Crush nebenan wohnte. Johanngeorgenstadt, wo er heute für die Aufarbeitung des NSU-Komplex demonstriert, kennt er von Erzählungen seiner Eltern, die sich dort auf einer Rüstzeit kennengelernt haben.
Springfeld ist mutig und sich seiner Rolle als weißer Mann bewusst. Dennoch will er über die emotionalen Belastungen sprechen, die mit seinen Kämpfen für eine bessere Welt einhergehen. Sei es die Angst um das eigene Wohlergehen oder das der Familie, wenn er nach einer Demonstration von Schlägertypen verfolgt wird. „Es gibt Nächte, in denen ich nicht schlafen kann […]. Nächte, in denen ich an die Sorgen meines Papas denke, der mir beim Kaffeetrinken erzählt, dass er Angst davor hat, was die AfD mit Menschen wie mir wohl anstellen könnte, wenn sie erst mal das Land regieren würde.“ Er spricht über das schlechte Gewissen für seine Flucht in die Großstadt, für seinen Hinterlandsverrat oder seinen Schmerz darüber, dass er seine ostdeutsche Heimat den Nazis überlassen muss. Er will sich den Mut nicht nehmen lassen, ruft dazu auf, Banden zu schmieden – doch so optimistisch und kämpferisch wie das Ende seines letzten Buches ist es nicht und er schließt mit: „Möchte ich wirklich wieder dort leben, wo Hitlergrüße auf Simsontreffen zur bitteren Normalität geworden sind?“
Rechtsextremismusexpert*innen werden nur bedingt Neues lernen, für Einsteiger*innen ist das Buch aber hervorragend geeignet. Das Buch macht Hoffnung und lässt Betroffene weniger alleine fühlen, denn die Beschreibungen Spingfelds sind für viele junge Menschen eine Lebensrealität. Für alle, die aus privilegierteren Positionen heraus Aktivismus betreiben, kann das Buch den Blick erweitern und vor allem Verständnis schüren.
Foto: Lara Müller