Hunderttausende Menschen demonstrieren aktuell in Großstädten wie Berlin gegen Rechts. In ostdeutschen Kleinstädten gehört mehr Mut dazu, Haltung zu zeigen.
RE3 Nazifrei. In Berlin würde dieses Graffiti wohl nicht weiter auffallen, doch im Regionalzug nach Angermünde sticht es ins Auge. Denn frei von Nazis ist die Kleinstadt in der Uckermark, Brandenburg, bei weitem nicht. Auf der Arbeit, im Stadtbild, im Freundes- und Bekanntenkreis und in der Familie: Rechtsextremismus ist hier alltäglich und unmittelbar spürbar.
Am 18. Februar 2024 findet in Angermünde eine Demonstration „Gegen Hass und Hetze, für Vielfalt, Toleranz und Miteinander“ statt. Über 600 Menschen versammeln sich gegen 14 Uhr auf dem Marktplatz. Mitorganisator der Demo ist Wolfgang Rall, der sich sowohl in seinem Beruf als Religionslehrer, zum Beispiel beim Polieren von Stolpersteinen mit seinen Schüler*innen, als auch im „Bürgerbündnis für eine gewaltfreie, tolerante und weltoffene Stadt Angermünde“ gegen Rechts engagiert. Mit der heutigen Teilnehmer*innnenzahl sei Angermünder Stadtgeschichte geschrieben worden, teilt er erfreut mit. „Wir haben auch noch nie ein so breites Bündnis von Leuten gehabt. Ich weiß, da waren auch konservative CDU-Leute dabei aber genau darum geht es. Bei allen politischen und weltanschaulichen Differenzen: Hier geht es wirklich um Grundwerte der Demokratie, hier sind Menschen aktiv, die Demokratie, Vielfalt, Pluralität und Toleranz beseitigen wollen – alles, was dieses Leben eigentlich lebenswert macht.”
Es brauche nicht einmal eine „linke“ Haltung, um hier von rechts angefeindet zu werden. Zusammen mit dem Bürgermeister habe Wolfgang Rall vor der Demo ein Banner mit der Aufschrift „Brandenburg zeigt Haltung für Demokratie und Zusammenhalt“ am Rathaus angebracht. „Allein dieses Banner hat Passanten dazu gebracht, uns den Vogel zu zeigen.“ Auf dem Marktplatz, gleich vor dem Rathaus, steht außerdem eine Bank mit der Aufschrift „Kein Platz für Rassismus“, zu der ein namhafter AfD-Politiker geäußert habe: „Wenn wir im Rathaus sind, ist das Erste, was wegkommt, diese Bank.”
Rechtsextremismus in Angermünde
Einschüchterungsversuche durch Rechtsextreme sind in Angermünde keine Seltenheit. Als er 1998 hierher zog, sei Angermünde in den Medien gerade sehr stark vertreten gewesen, beschreibt Rall: “Hier gab es Übergriffe, hier gab es Molotow-Cocktails auf ein Büro von einem Verein“, der sich gegen Rechtsextremismus engagiert habe. Wie in vielen ostdeutschen (Klein-)Städten waren die 90er und Nullerjahre, auch bekannt als Baseballschlägerjahre, in Angermünde geprägt von rechter Gewalt.
Seit 2015 ist der Vizechef der Neonazipartei „Dritter Weg“ in der Nachbarschaft wohnhaft. Eine solche Präsenz sei schon eine große Einschüchterung. „Ein Mitglied des Dritten Wegs (Glatze, tätowiert, entsprechende Symbole) hat zum Beispiel immer – und das wirkt auch bei Leuten, man darf das nicht unterschätzen – den „bösen Blick“ versucht. Und damit hat er vielen, vielen Leuten Angst gemacht“, schildert Wolfgang Rall. Ihre Flyer verteile die Partei an zentralen Orten der Stadt. „Wenn wir die Information rechtzeitig bekommen, dass die da stehen, stellen wir uns auf die andere Straßenseite und machen deutlich: Wir sind dagegen, das bleibt nicht unwidersprochen.“
“Der weiß ja, wo ich hier wohne”
Der heutige Demo-Zug von über 600 Menschen füllt die Straßen der Kleinstadt: Alle zusammen gegen den Faschismus. Dass die Demonstrierenden heute in der Überzahl sind, ist jedoch nicht die Regel.
„Die letzten Jahre waren wir meistens so 20 Leute, wenn wir so eine Veranstaltung gemacht haben und auch mindestens genauso viele Nazis, die das begleitet haben. Meistens waren wir weniger“, erzählt eine Person, die gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Demonstrierender eine Antifa-Fahne hält. In Großstädten wie Berlin ist es ein Leichtes, sich in eine hunderttausendköpfige Demo einzureihen und in der Masse zu verschwinden. Den Nazis, gegen die sich die Sprechchöre richten, stehen Demonstrierende in Berlin selten von Angesicht zu Angesicht gegenüber und wenn doch, dann im Normalfall nicht in der Unterzahl. In Angermünde und anderen Kleinstädten, in denen Rechtsextremismus eine unmittelbare Bedrohung darstellt, ist das etwas anderes: „Weißt du, in Berlin, da bist du halt ein anonymer Antifa-Mensch und hier siehst du Nazis im Einkaufsladen nebenan und an der Tanke. Hier ist der Schornsteinfeger, der einen rechten Spruch ablässt und du denkst: ‚Scheiße, der weiß ja, wo ich hier wohne.’“ Diese fehlende Anonymität kann zu einer ernsthaften Gefahr werden, wie eine weitere Person der Gruppe ergänzt: „Alte Geschichten sind schon krass, wenn Bekannte oder Freund*innen von den Nazis vor Ort verfolgt wurden. Die Angst habe ich immer im Hinterkopf. Ich habe ein kleines Kind und die führen trotzdem ihre Listen und wissen, wer die offen Linken sind.”
Heute habe der Dritte Weg im Café am Marktplatz gesessen und durch die Scheibe fotografiert, wie Wolfgang Rall berichtet. „Jetzt hier auf die Straße zu gehen, heißt tatsächlich: Ich oute mich. Ich bin erkennbar. Also ich kann dann natürlich im Betrieb, in der Familie, beim Bowlen oder bei irgendeiner Feier darauf angesprochen werden: ‚Sag mal bist du da auch bei diesen linken Zecken?’“
Es ist einzig die Notwendigkeit
Die Gefahr, die damit verbunden ist, sich in ostdeutschen Kleinstädten wie Angermünde offen links zu zeigen, wird auch im Netz sichtbar: „Die drohen auch oft bei Facebook: ‚Zecken knallen’ und ‚sie kommen’, meint eine der Personen, die Antifa-Fahne haltend. Nicht anders sei es bei der aktuellen Demo gewesen, wie Wolfgang Rall berichtet. „Als ich das bei Facebook gepostet habe, ging’s sofort wieder los.“ Er selbst habe wegen seines Engagements gegen Rechts des Öfteren schon Drohbriefe erhalten, was seine Frau einmal mit „Scheiße, jetzt wirst du noch aktiver“ kommentierte.
„Oft sagen Menschen zu mir: ‚Aber das macht dir doch auch Spaß.‘ Und da muss ich jedes Mal denken: Nee, es macht mir keinen Spaß. Es macht mir keinen Spaß, denen gegenüber zu stehen, es macht keinen Spaß, mir diese ganzen Parolen anzuhören. Es ist einzig die Notwendigkeit.“ Diese Notwendigkeit, sich gegen Rechts zu engagieren, dürfe nicht den Großstädten überlassen werden, nur weil es dort leichter falle: „Nein, ich denke, auch die Herausforderung der kleineren Orte muss angenommen werden“, sagt Wolfgang Rall bestimmt.
Um das Rathaus herum schließt sich die Demo zu einer Menschenkette zusammen. Haltet fest zusammen, haltet fest zusammen. Gerade hier in einer ostdeutschen Kleinstadt sei das wichtig, betont die Gruppe Demonstrierender: „Die Leute sind eingeschüchtert, eben wegen diesen Geschichten. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Konstante sind, dass wir hier stehen, die Leute wieder abholen und zeigen: Ihr braucht keine Angst zu haben, wir halten zusammen.“
Wolfgang Rall schließt: „Ich kann zwar Angst haben, aber Mut bedeutet ja nicht, keine Angst zu haben, sondern trotz der Angst etwas zu tun“.
Und der RE3 fährt zurück nach Berlin: …da, wo es keine Nazis gibt.
Illustration: Luzie Fuhrmann