Samstagabend, 22:20. Ich stehe am Bahnhof Zoo und tippe gestresst in die Notizen-App meines iPhones: „Besoffene Männergruppen sind wirklich, was dieser Stadt noch gefehlt hat“ …und zwar zum absoluten Kollaps!
Was sich hier abspielt, hat mich widerwillig die Kopfhörer aus den Ohren nehmen und meine wehleidige Spaziergeh-Playlist pausieren lassen, denn einerseits: Das Italien-Albanien-Spiel tobt in vollem Gange, die Lokale und Spätis sind gut gefüllt, vor den Bildschirmen Menschen (meist männlich) mit hypnotisiert anmutenden Blicken. Andererseits: Personen-, ebenfalls weitestgehend Männergruppen in rot-weiß-karierten Trikots überall, die ich intuitiv und fälschlicherweise als Albanien-Fans einordne (deren Flagge war doch rot, oder?). Aber warum sind die nicht vorm Fernseher, sondern taumeln hier zwischen Bikini Berlin und dem kultigen Wurst-Imbiss Curry 36 auf dem Vorplatz des S-Bahnhofs herum?!
Als gefühlt einzige Kein-Fußball-Trikot-Tragende werde ich von entgegenkommenden Fans neugierig beäugt, als ich mich, inzwischen etwas gestresst, in Richtung Breitscheidplatz aufmache. Nach meinem zweistündigen Spaziergang hat mich nämlich eine akute Hungerattacke gepackt und die betrunkene Horde vor Curry 36 wollte ich mir dann doch nicht antun.
Das ist es also, das vielbeschworene Sommermärchen: Vor KFC riecht es stark nach Frittierfett, dazu mischt sich eine bedenklich intensive Urin-Note.
Einige Frauen schauen ihren mehrheitlich männlichen Zeitgenossen leicht verlegen bei deren urzeitlichen Brüll-Ritualen zu. Ein wenig Stolz auf mein Geschlecht erfasst mich, denn es sind wirklich hauptsächlich Männer, die hier dieses nervtötende Spektakel abliefern. Aber: Was ist das bitte für eine Sprache (Kroatisch, wie sich später herausstellt) und kann mir nicht um Himmels Willen einfach IRGENDWER etwas Essbares verkaufen??
Nach einer verzweifelten M29-Busfahrt den Ku’damm hinunter stellt sich heraus, dass es zwar bis Halensee keine einzige Fast Food-Filiale, keinen Imbiss und auch keinen Dönerladen gibt, dafür aber sämtliche Anwesenden in den Restaurants gebannt das Spiel verfolgen – ich will mir nicht einmal ausmalen, was wohl passiert, wenn ich hier jemanden nach etwas zu Essen frage.
Komplett entnervt schleppe ich mich zurück in den Bus. Mittlerweile ist es 23:00 und wieder am Zoo angekommen versuche ich mein Glück erneut bei Curry 36, in dem die beiden Mitarbeiter in Rekordtempo Frittiertes und Gebratenes mit Ketchup und Majo aus dem Ärmel schütteln. Kein sonderlich entspannter Arbeitstag, wie ich vermute.
Ich hatte es schon fast nicht mehr für möglich gehalten, aber fünf Minuten später verspeise ich glücklich meine Pommes rot-weiß. Eine Truppe junger Männer in Schottenröcken verbreitet Stimmung vorm HIT Ullrich Lebensmittelmarkt – ob gute bleibt jetzt wohl Ansichtssache, aber Fakt ist: Mit gefülltem Magen komme auch ich fast ein bisschen ins EM-Fieber. Ist doch eigentlich toll, wenn man sich mal so richtig für etwas begeistern kann! Gedankenverloren schlendere ich zurück die Hardenbergstraße entlang, als ich von der anderen Straßenseite zur Abwechslung Gesänge deutscher Fußballfans vernehme. Aber Moment mal kurz, das war doch jetzt gerade nicht ernsthaft die Melodie von Gigi D’Agostinos „L’amour Toujours“, oder?! Wenn das mal kein Zufall ist…

Dieser Artikel ist Teil unseres Onlineschwerpunktes zur Fußball-Europameisterschaft 2023.


Foto: Pia Wieners