Der Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 liegt nun bereits über einen Monat zurück. 1200 Zivilist*innen sind bei dem Anschlag ermordet worden, Hunderte wurden verschleppt. In Deutschland ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle seit dem 7. Oktober drastisch angestiegen. Noam Petri und Lisa Michajlova von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) berichten, wie sich das Leben für junge jüdische Menschen in Deutschland verändert hat.
UnAuf: Allein zwischen dem 7. und 15. Oktober wurden der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) 202 antisemitische Vorfälle gemeldet. Das sind rund 240% mehr gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Wie geht es euch, wenn ihr solche Zahlen hört?
Lisa: Die Zahlen sind für Leute wie Noam und mich, die viel in diesem Bereich arbeiten, leider nicht besonders überraschend. Der Antisemitismus hat immer schon in der Gesellschaft geschlummert. Wir haben auch schon 2021 gesehen, dass sich der Antisemitismus, wenn im Nahen Osten etwas passiert, hier verschlimmert und auf die Straße gebracht wird. In der Härte, wie sich das jetzt zeigt, ist das für uns alle natürlich erdrückend. Wir beobachten die Situation in Israel, trauern und sorgen uns dort um die Menschen und bekommen gleichzeitig aus der deutschen Gesellschaft zwar in vielen Fällen Rückhalt, aber das, was wir auf den Straßen und in den sozialen Medien sehen, beunruhigt uns sehr. Es macht uns auch wütend, weil wir in den letzten Jahren viel getan haben, um offener in die Gesellschaft hineinzugehen und inklusiver zu werden. Es fühlt sich so an, als wären all diese Errungenschaften in den letzten vier Wochen pausiert oder vernichtet worden.
Noam: Die Entwicklung hat uns nicht überrascht, weil vor diesem häufig israelbezogenen Antisemitismus, ganz besonders aus linken und muslimischen Kreisen, seit Jahren gewarnt worden ist. Es sind nicht die ersten antisemitischen Demonstrationen in Deutschland gewesen, es sind auch nicht die ersten Anschläge auf Synagogen gewesen. Das, was wir an Unis erlebt haben, gab es schon früher. Dementsprechend hat es uns nicht gewundert, man konnte das eigentlich vorhersehen. Aber die Quantität ist neu, würde ich sagen. Und auch die Qualität. In dieser Intensität ist das noch nie dagewesen und diese Eindeutigkeit war nicht zu erwarten. Dass Menschen das Abschlachten von Zivilisten als zionistische Propaganda abtun, sagen, es habe gar nicht stattgefunden, das hat mich persönlich schon überrascht. Und was mich auch erstaunt, sind die ganzen Rufe nach einer Waffenruhe ohne gleichzeitige Forderung der Befreiung der Geiseln. Israel führt diesen Krieg, um die Hamas zu vernichten, die in der EU und in Deutschland als islamistische Terrororganisation eingestuft worden sind und eindeutig zum Mord an allen Juden aufrufen, sich gegen alle freiheitlich-demokratischen Werte bekennen und auch mit den Taliban kooperieren.
UnAuf: Wie kann man sich das Leben jüdischer Studierender in Deutschland momentan vorstellen? Hat sich seit dem 7. Oktober etwas verändert?
Noam: Uns erreichen viele Nachrichten von Studenten, die nicht mehr in die Uni gehen wollen aufgrund von ihren Kommilitonen, aufgrund von Dozenten. Viele gehen nur noch zu Pflichtveranstaltungen, viele haben Angst. Das Studentenleben hat sich enorm verändert.
Lisa: Es ist auch sehr standortabhängig, gerade Studierende, die in kleineren Städten sind, erleben fast das Gegenteil. Sie kommen zur Universität und sind kaputt, sie sind müde, sie sehen schrecklich aus und die Leute um sie herum wissen gar nicht, wieso und fragen: „Was ist los? Was ist passiert? Warum geht’s dir so?“ Viele trauen sich dann nicht zu sagen, dass sie jüdisch sind oder dass die aktuelle Situation sie sehr belastet. Jetzt hat gerade das neue Semester angefangen, viele sind vielleicht neu irgendwo hingezogen, nicht jeder steht in der Öffentlichkeit wie Noam und ich. Das heißt, es ist gar nicht unbedingt bekannt, dass die Personen jüdisch sind. Man hat immer schon lange überlegt, ob man das sagen soll oder nicht, und gerade jetzt ist es für viele unmöglich, offen darüber zu sprechen.
Viele berichten, dass sie die meisten ihrer Freundinnen oder Kommilitoninnen verloren haben. Das führt auch dazu, dass es gerade innerhalb der jüdischen Gemeinschaft einen größeren Zusammenhalt gibt. Es gibt viele Leute, die jahrelang wenig bis nichts mit der jüdischen Community zu tun hatten und die sich jetzt bei uns melden. Sie gehen aktiv auf Studierendenverbände oder Synagogengemeinden zu und möchten wieder Anschluss finden, weil sie berichten, dass niemand sie in dieser Situation gerade verstehen kann, außer jüdische Personen oder Personen, die sich generell viel mit dem Thema beschäftigen.
Ich persönlich trage seit 2021 nicht mehr öffentlich die Davidstern-Kette, zumindest im Ruhrgebiet, weil es da schon länger ein bisschen schwierig ist. Viele hatten zunächst kein Verständnis dafür und meinten, ich solle mich offen zeigen und mir würde schon nichts passieren. Doch auch bei den Personen ist jetzt angekommen, dass wir uns tatsächlich in ähnlichen Verhältnissen befinden wie vor 85 Jahren, natürlich nicht in der Extreme, aber es hat auch damals mit Worten angefangen und diese Anfänge, diese Retraumatisierung, die spüren wir. Es gibt Graffitis, an Hauswänden und auch in Häusern, mit den Worten: „Würdet ihr mich verstecken?“ Das ist etwas, das uns 100 Jahre zurückführt. Gerade in Deutschland können wir sowas nicht tolerieren.
UnAuf: Noam, du hattest gerade schon angesprochen, dass euch auch Nachrichten von Studierenden erreichen, die Angst haben, zur Uni zu gehen. Was ratet ihr denn solchen Studierenden?
Noam: Wir versuchen, an einzelnen Universitäten mit den jeweiligen Zuständigen Kontakt aufzunehmen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil es häufig Antidiskriminierungsstellen sind, die völlig verschlossen sind, was dieses Thema angeht, die teilweise Antisemitismus leugnen und meinen, es sei nicht antisemitisch, sondern „Israelkritik“. Was wir anbieten, ist zu uns zu kommen und mit anderen Betroffenen zu sprechen, sich dort zu stärken, sich auszutauschen und Freunde an den Universitäten zu suchen, die einen unterstützen. Wir versuchen aber auch, strukturell zu arbeiten. Das ist jedoch nicht so einfach, weil wir sehen, dass sich in der Universität ein Milieu aufgebaut hat, das für dieses Thema verschlossen ist, Antisemitismus leugnet, gar keinen Bezug mehr dazu hat und islamistisches Gedankengut salonfähig macht und normalisiert.
Lisa: Was Studierende ganz konkret machen können, ist an Orten, an denen eine direkte Gefahr besteht, beispielsweise seitens Samidoun-Netzwerken oder vermeintlich linken Organisationen, nicht allein über den Campus zu laufen. Wenn jemand Hilfe braucht, bieten wir auch an, dass wir die Person begleiten. Beispielsweise hatten wir eine Veranstaltung in Neukölln, bei der wir uns darum gekümmert haben, dass wir alle gemeinsam laufen können. Das ist das, was wir jüdischen Studierenden in Extremsituationen raten: sich zusammenzutun, Grüppchen zu bilden und nirgendwo allein lang zu laufen.
Das Interview führte Nora Rauschenbach.
Foto: Jessica Brauner