Gegenwart und Vergangenheit, Märchen und Realismus, Melancholie und Romantik. Aki Kaurismäkis „Fallende Blätter“ überzeugt mit trockenem Humor, großartiger Chemie zwischen den Hauptdarsteller*innen, klarer Bildsprache und bezaubernder Filmmusik.

Es gibt wenige Regisseur*innen, deren Filme einen derartig hohen Wiedererkennungswert haben, dass man schon bei den ersten Einstellungen das Gefühl hat, in eine eigene Welt einzutauchen. Ein solcher Regisseur ist Aki Kaurismäki. „Fallende Blätter“, sein neuster Film und, kein Witz, der vierte Teil einer Trilogie, führt uns in das (Über)leben der Arbeiterklasse am Rande der finnischen Gesellschaft. Ansa (Alma Pöysti) arbeitet auf Grundlage eines Null-Stunden Vertrags in einem Supermarkt, in dem sie Regale einräumt und abgelaufene Lebensmittel entsorgt, Holappa (Jussi Vatanen) arbeitet auf einer Baustelle, wohnt in einer Gemeinschaftsunterkunft und ertränkt seinen Kummer im Alkohol. Sie begegnen sich in einer Karaoke-Bar, zum Klang von Rock, finnischem Tango und Schuberts „Ständchen“, bevor sich ihre Wege wieder trennen. Nachdem Ansa entlassen wird, weil ein Sicherheitsangestellter sie dabei beobachtet hat, wie sie ein abgelaufenes Sandwich in ihre Tasche steckt und Holappas Alkoholismus nach einem Arbeitsunfall auffliegt, kreuzen sich die Wege der beiden inzwischen arbeitslosen Protagonist*innen erneut. Langsam und unter Überwindung zahlreicher Hindernisse entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen den beiden.

Liebe an der Grenze zum Eskapismus

So unspektakulär der Plot auch scheint, so vielschichtig entfaltet er sich durch die Zeichnung der Figuren, die Bildsprache, einen trockenen, subtilen Humor und die Filmmusik. Sowohl Ansa, als auch Haloppa, dessen Vornamen wir über den gesamten Film hinweg nicht erfahren, sind einsame, liebenswürdige Außenseiter*innen, die vom Leben gezeichnet sind. Sie kämpfen jeden Tag aufs Neue um ihre Würde und für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ohne sich dabei großen Illusionen hinzugeben. Sie wissen um die Prekarität ihrer Existenz und ihre Abhängigkeit von der Willkür ihrer Chefs. Vielmehr sind sie sich darüber im Klaren, dass sich an ihrer finanziellen Situation in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Ideologiekritisch geschulte Filmkritiker*innen mögen dem Film an dieser Stelle Eskapismus vorwerfen. Sie könnten die Suche nach privatem Glück, angesichts der erfahrenen Ausbeutung, als Reproduktion kapitalistischer Ideologie verstehen. Tatsächlich lässt sich Holappas Sucht als Bewältigungsstrategie interpretieren, um Armut und Einsamkeit zu entfliehen. Diese Flucht vor der Realität gesteht er sich ein. Auf die Frage eines Freundes, wieso er so deprimiert sei, antwortet er: „weil ich so viel trinke“. Seinen Alkoholismus wiederum  begründet der Protagonist in seinem depressiven Gemütszustand.

Die Vereinigung von Gegensätzen zeigt sich auch auf der zeitlichen Ebene. Die Kleidung der Figuren, das Interieur der gezeigten Wohnungen und Kneipen sowie die verwendeten Technologien wirken aus der Zeit gefallen. Sie erwecken den Eindruck, als spiele der Film in der Vergangenheit, bis das Publikum durch Radioreportagen über russische Kriegsverbrechen gegen die Ukraine in die Gegenwart zurückgeholt wird. Diese Vermischung verschiedener Epochen verleiht dem Film etwas Märchenhaftes. Ein solches Spiel mit der Zeit birgt die Gefahr, die Geschichte und die Figuren unglaubwürdig zu machen. Wie ist es möglich, dass sich zwei Menschen im Jahr 2022 in einem der modernsten Länder der Welt in einer Umgebung bewegen, die aussieht, als entspränge sie einem Film aus der Nachkriegszeit? Kaurismäkis Filmen gelingt es, diesen Bruch in den Handlungen und Figuren zu vereinen. Die karge Einrichtung der Innenräume beschränkt sich auf das Notwendige, was dem Spiel der Schauspieler*innen mehr Raum verschafft. Gleichzeitig korrespondiert die Einfachheit der Einrichtung mit der Einfachheit der Lebensumstände der Figuren. Trotz minimalistischer Einrichtung wirkt beispielsweise Ansas Zimmer ästhetisch.

(K)eine Liebeskomödie

Man kann „Fallende Blätter“ als romantische Liebeskomödie bezeichnen. Obwohl diese Einordnung zweifelsohne richtig ist, trifft sie, wie in Bezug auf die politische und zeitliche Dimension bereits dargelegt, nur teilweise den Kern des Films. Die Romantik in diesem Film ist geprägt von der Unsicherheit der Protagonist*innen, die sich einander zunächst sehr langsam annähern, so langsam, dass sie sich zu Beginn nicht einmal ihre Namen verraten wollen. Als Holappa Ansa zum ersten Mal in ein Café einlädt, schweigen sie sich lange an, bevor sie anfangen, sich darüber zu unterhalten, dass es lange nicht mehr geregnet hat. Trotz aller Distanz und Schweigsamkeit ist die Leidenschaft der beiden in ihren Blicken füreinander sichtbar. Die Unsicherheit der Protagonist*innen führt zu ungewollt komischen Situationen. Obwohl die Figuren selbst fast nie lachen, ist „Fallende Blätter“ ein durch und durch lustiger Film. Als Ansa Holappa zum Abendessen einlädt, kauft sie eigens dafür einen zweiten Teller sowie ein zweites Paar Besteck.  Nachdem Holappas Alkoholismus im Rahmen des Dinners auffliegt, wirft Ansa ihn hinaus.Damit verleiht sie dem Begriff Einweggeschirr eine ganz neue Bedeutung. Einmal mehr gelingt es Kaurismäki in dieser und ähnlichen Szenen die Absurdität und Enttäuschungen des Lebens und Liebens darzustellen, ohne die Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben.

All die genannten Effekte, der Humor, die Bildsprache, und der Effekt der vermischten Zeitebenen werden durch die Filmmusik verstärkt. Wie in anderen Filmen von Kaurismäki ist die Musikquelle in Form von Karaoke, Jukeboxes oder einem Liveauftritt in vielen Szenen sichtbar. Weitere Szenen werden aus dem Off durch klassische Klänge oder alte Finnische Tangos begleitet. Sie unterstreichen die Melancholie und verdeutlichen die Zeitlosigkeit der verhandelten Themen und Figuren. In der Abschlussszene erklingt der titelgebende Song „Kuolleet Lehdet“, eine finnische Übersetzung des Klassikers „Autumn Leaves”.

Aki Kaurismäki zeigt mit „Fallende Blätter“, dass es sich lohnt, Einsamkeit und Erniedrigung auszuhalten und für die kleinen Momente des Glücks zu kämpfen, ohne dabei kitschig oder pathetisch zu sein.


Foto: © Sputnik Oy / Pandora Film, Foto: Malla Hukkanen