Viele Menschen mit Migrationsgeschichte lernen von klein auf, dass sie nur dann ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sind, wenn sie ihr durch ihre Produktivität nützlich sind. Das heißt also viel zu arbeiten und berufliche Erfolge zu verzeichnen. Viele entwickeln davon ausgehend ein ungesundes Verhältnis zur Arbeit.

Manchmal sitze ich bis vier Uhr morgens am Schreibtisch und schreibe Texte oder lese für die Arbeit oder Uni, lese, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen und mein Schädel brummt und mache um neun Uhr morgens weiter. Ich lese selten zur Erholung, schreibe immer weniger für mich, sondern versuche aus meinen geistigen Ergüssen stets einen Mehrwert zu generieren, aus dem sich schließlich hoffentlich beruflicher oder akademischer Erfolg speisen wird.

Das liegt einerseits am kapitalistischen System, welches ich so sehr internalisiert habe, dass ich mich nur dann wirklich wohl in meiner Haut und zufrieden fühle, wenn ich durch meine unbedingt tägliche Produktivität Erfolgserlebnisse verzeichnen konnte. Ich neige dazu, mich zu überarbeiten und tendiere immer mehr dazu, den Feierabend als Option zu betrachten. Pausen nutze ich als Zeit, in der ich dennoch effizient und produktiv sein, Erledigungen machen und mir Wissen aneignen kann – Nichtstun oder Ausruhen kommt nicht in Frage. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben, immer mehr Dinge von der To-Do-Liste streichen zu können, nur, um noch mehr wieder draufzuschreiben, macht süchtig. Die Furcht davor, etwas zu verpassen und deshalb bei politischen Geschehnissen nicht am Ball zu bleiben, gibt mir keine Ruhe. Immer besser zu werden, mehr zu erreichen und ja, auch der Zuspruch, den ich erhalte, treibt mich an. Das permanente Beschäftigt-Sein, stets etwas zu tun haben zu müssen, hilft mir außerdem, den Lockdown und seine Auswirkungen auf meine Psyche nicht zu spüren.

Ich lehne den Kapitalismus ab und doch habe ich ihn mir einverleibt. Aber nicht nur im Sinne von „Jeder ist seines Glückes Schmied“, „Ohne Fleiß kein Preis“ oder des amerikanischen Traums vom Aufstieg durch harte Arbeit. Dass Menschen, die viel und hart arbeiten und sich bis ins Unermessliche anstrengen, dennoch häufig arm bleiben, habe ich bereits früh gelernt und mich von diesen kapitalistischen Märchen, so gut es eben geht, verabschiedet. In meinem Fall wirkt auch das Vitamin M.: der migrantische Arbeitsethos, den ich seit Kindestagen an verinnerlicht und seither in der Schule, Uni und im Beruf praktiziert habe.

“In diesem Land musst du dich doppelt so hart anstrengen, wie alle anderen.”

Bestimmte Sätze, die mein Vater mir in meiner Kindheit auf Russisch sagte, hallen noch heute häufig in meinem Kopf nach: „Wir sind nach Deutschland gekommen, um dir eine gute Bildung zu ermöglichen. In diesem Land musst du dich doppelt so hart anstrengen, wie alle anderen. Auf Ausländer wird hier ein besonderes Augenmerk gerichtet. Du musst beweisen, dass du nicht umsonst hier bist und Deutschland von deiner Arbeit und deinem Wissen profitieren kann. Wenn du etwas abgibst, was du mit deinem Namen unterzeichnest, dann muss es sehr gut sein, oder gib am besten gar nicht ab.“

Diese Worte waren leitend für mich und sind es auch heute noch, zumindest teilweise. Meine Kindheit und Jugend waren von der ständigen Sorge durchzogen, nicht gut genug zu sein, in der Grundschule aufgrund der neuen Sprache nicht ausreichend schnell mitzukommen, von Lehrer*innen eine Sonderbehandlung wegen meines Migrationshintergrunds zu erhalten. Sie war geprägt von der Angst mit einer schlechten Note nach Hause zu kommen, in einem musikalischen Wettbewerb nicht zu gewinnen und die Erwartungen meiner Eltern zu enttäuschen.

Jeden Tag legte mein Vater nach der Schule etliche Übungseinheiten mit mir ein, um mir zu helfen, den Schulstoff zu verstehen und vorauszulernen, damit ich im Unterricht besser mitkam. Irgendwann kam er aufgrund der Sprachbarriere nicht mehr mit – ich dafür umso besser und irgendwann auch ganz ohne Akzent. Die deutsche Sprache ging mir in Fleisch und Blut über und bald fühlte ich mich auch in ihr zu Hause. Gleichzeitig brachten meine beiden Eltern mir exzellentes Russisch in Schrift und Sprache bei. Während andere Kinder draußen spielten, spielte ich auf unserem Klavier und schrieb Diktat. Schon früh war klar, dass ich studieren würde und ein Gap Year nach dem Abitur stand nicht zur Debatte. Leistungsmaximierung und durch gute Ergebnisse herauszustechen waren die Devise.

Die toxische Arbeitsmoral

Und dieser subtile Druck ist auch heute noch da, auch wenn ich mittlerweile weder meinen Eltern noch sonst irgendwem zu etwas verpflichtet bin. Ich habe stets das Gefühl, meine Eltern stolz machen zu müssen, ihnen und vor allem mir selbst und der Gesellschaft entgegen aller Vorurteile gegen Osteuropäer*innen zu zeigen, dass ich etwas erreicht habe. Auf ungesunde Weise freut mich die geäußerte Sorge meiner Freund*innen und Familie, die meinen Versuch der exzessiven Gleichzeitigkeit anprangern und mir zugleich Bewunderung und Lob aussprechen. Das pusht mich auf toxische Weise.

Ich glorifiziere die Überarbeitung bis an den Rand des psychischen Zusammenbruchs und entschuldige mich vor mir selbst damit, dass ich meine Arbeit lieben würde und sie mir Spaß bereite. Das stimmt ja auch. Es fällt mir dennoch schwer, die Balance zwischen Produktivität und Verausgabung zu finden. Ich habe Angst, ein Jobangebot abzulehnen, eine Chance zu verpassen und überlege einen Auftrag notfalls auch nachts zu erfüllen, wenn die Tagesstunden meiner 50h Woche nicht mehr ausreichen. Ich fürchte mich noch immer vor der Zukunft, davor, dass es immer jemanden geben wird, der origineller und besser schreibt als ich. Davor, dass Journalismus ein eher unsicherer Beruf ist und man davon alles andere als reich wird. Doch wenigstens hier versuche ich der kapitalistischen Arbeitsmoral zu trotzen und einer Tätigkeit nachzugehen, die mir zwar nicht unbedingt viel Geld einbringt, mich jedoch erfüllt und meinem Leben Sinn verleiht.

Letzte Woche habe ich einen temporären Job bei einer Zeitung und eine Anstellung bei einer renommierten Stiftung angeboten bekommen. Ich habe zunächst reflexartig beide angenommen und war kurz davor, meine Pläne für den sich abzeichnenden Sommer voller Lockerungen zu streichen. Am nächsten Morgen nach der Entscheidung und nach dem Gespräch mit einem Freund rief ich nochmal an, revidierte und lehnte beide Jobs ab. Nun steigt die Vorfreude auf den Versuch abzuschalten und eine Auszeit vom immerwährenden migrantischen Arbeitsethos.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #257 zum Thema Träume und Zukunft erschienen. Weitere Beiträge aus dem Heft lest ihr hier.

Foto: Anthony Tran
Illustration: Christina Peter