Die neue Netflix-Serie Unorthodox ist nicht nur in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen sehenswert. Sie ist gleichzeitig ein bis ins Detail authentisches Porträt einer ultra-orthodox jüdischen Gemeinschaft und eine Hommage an Berlins Freiheit.

Protagonistin ist die 19-jährige Esther, genannt Esty, die im New Yorker Stadtteil Williamsburg als Teil der chassidischen Satmar Community aufwächst. Wiederkehrende Rückblenden beschäftigen sich mit ihrer strengen ultra-orthodoxen Erziehung und der dortigen sozialen Struktur: Esty wird mit Beginn der Volljährigkeit verheiratet und sieht sich schnell mit dem gesellschaftlichen Zwang konfrontiert, sexuell zur Verfügung zu stehen und sowohl ihrem Mann als auch der Gemeinschaft Kinder zu schenken. Das Narrativ: Die 6 Millionen Juden*, die im Holocaust ermordet worden, wieder zu reproduzieren.

Um diesem Druck zu entkommen, nimmt sie in mit Hilfe ihrer Klavierlehrerin Reißaus nach Berlin. Die Stadt, in der 15 Jahre zuvor ihre Mutter Zuflucht vor der Strenge der orthodoxen Community gefunden hat. Dort gestrandet, lernt sie eine Clique junger, internationaler Musikstudierender kennen, die sie unter ihre Fittiche nehmen. Während sie ihrem Traum, Musik zu studieren, näherkommt, macht sich Estys Ehemann Yanky, geschickt vom Rabbi der Gemeinde, zusammen mit seinem zwielichtigen Cousin Moishe auf die Suche nach ihr. 

Lerneffekt inklusive

Die Mini-Serie erzählt nicht nur berührende Geschichte einer Heranwachsenden, sondern ist auch eine Reise in die Bräuche der ultra-orthodoxen Gemeinschaft. Wir sehen dort etwas, was in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie ausgestorben ist: jüdische Kultur. Scheinbar selbstverständig und ohne Vordergrund lehren uns die New Yorker Ausschnitte einige Basics der orthodoxen Lebensweise. Angefangen mit den großen Fellhüten, den Schtreimel, den Gebräuchen des jüdischen Feiertags Sabbat und detailreichen Bildern einer orthodox-jüdischen Hochzeit. Und: Unorthodox ist die erste Serie auf Jiddisch, der Vorgängersprache des modernen Hebräisch.

Auch die Berliner Episoden führen uns die Abwesenheit von jüdischer Kultur vor Augen und machen uns im gleichen Zug deutlich, wie sich Menschen jüdischen Glaubens auch in einer multikulturellen Stadt wie Berlin maskieren müssen. Um sich in der deutschen Hauptstadt bewegen zu können, setzen sich die beiden ultra-orthodoxen Yanky und Moishe als erstes eine Baseballcap auf. Mit Kippa durch Berlin? Nicht unbedingt die beste Idee. Außerdem machen uns mehrere Szenen deutlich, dass wir abgesehen von DJs aus Tel Aviv wenige Berührungspunkte mit jüdischer Kultur haben. So fragt sich das Loveinterest Robert wegen Estys Perücke, ob sie krebskrank sei. Seine israelische Freundin Yael daraufhin entgeistert: „Come on, she’s ultra-orthodox […] where the women are baby machines.”

Frauen im orthodoxen Judentum

Denn die Bräuche der ultra-orthodoxen Community werfen vor allem Schatten auf weibliche Selbstbestimmung und Sexualität. Immer wieder erwähnt die Serie, welche Einschränkungen Frauen dort erleben. Ihre „heilige Pflicht“ sei es, den Mann, mit dem sie verheiratet wurde, als Frau und Mutter glücklich zu machen und sich ihm unterzuordnen. Das Leben von ultra-orthodoxen Frauen und Mädchen ist dominiert von Dingen, die sie wegen ihres Geschlechts nicht dürfen: Laut singen oder ihr Haar offen zeigen – um Männer nicht in Versuchung zu bringen selbstverständlich. Als Esty im Streit mit ihrem Ehemann den Talmud  rezitiert, erinnert dieser sie daran, dass es ihr nicht erlaubt ist, das heilige Buch zu lesen. 

Das Paradoxon der Gemeinschaft: Gleichzeitig den weiblichen Körper als Tabu zu erklären, aber eben auch auf die reproduktive Funktion von Frauen angewiesen zu sein. Die Lösung heißt Kontrolle schaffen. Kein Problem also, dass Estys Schwiegermutter ihr immer wieder ungefragt Tipps für erträglicheren Sex gibt, als sie nach einigen Monaten Ehe immer noch nicht schwanger ist. Fortlaufend wird auch die (Un)reinheit von Frauen betont. Beispielsweise müssen Frauen nach ihrer Periode erst einmal das rituelle Bad, die Mikwe, durchlaufen, bevor sie sich wieder zu ihrem Ehemann ins Bett legen – das erzählt ihr die gemeindeeigene „Ehe-Lehrerin“. Als diese ihr das Prinzip von Geschlechtsverkehr erklärt, ist die kindliche Esty zunächst von ihrer eigenen Anatomie überfordert. 

Eine Ode an Berlin

Dass Esty ausgerechnet in Berlin Unterschlupf findet, liegt nicht nur daran, dass sie aufgrund ihrer deutschen Familiengeschichte als Jüdin Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Die Serie skizziert Berlin vor allem als Kontrapunkt zu der ultra-frommen Welt in Williamsburg: Divers, freiheitsliebend, ungezügelt. Hier küssen sich Menschen auf offener Straße, es wird Arabisch gesprochen, Techno gehört und Schinken gegessen. Unorthodox zeigt Berlin von seiner besten Seite, als Heimat für alle. Nicht allerdings ohne Seitenhiebe: Immer wieder wird auf die deutsche Vergangenheit hingewiesen und noch immer haben Männer Deutschland-Tattoos auf ihren Rücken. 

Als Esty mit ihren neuen Freund*innen – allesamt wunderschön und talentiert – einen Ausflug zum Wannsee unternimmt, zeigt sich Berlin als geheilte Stadt. In der Villa gegenüber des Sees wurde 1942 über die sogenannte „Endlösung“ entschieden, heute schwimmen an ihrem Ufer Hipster. Für Esty wird das Schwimmen im Wannsee zu einem Neuanfang, der an die jüdische Mikwe erinnert. Im Sonnenuntergang nimmt sie ihre Perücke ab und zeigt das zu Beginn ihrer Ehe kurzrasierte Haar. 

Eine wahre Geschichte

Das Besondere der deutschen Netflix-Produktion: Sie beruht auf der gleichnamigen Autobiographie von Deborah Feldman. Ähnlich wie Esty hat sie im Alter von 23 gemeinsam mit ihrem dreijährigen Sohn ihre ultra-orthodoxe Familie in New York verlassen. Obwohl die Geschehnisse in Berlin in der Serie reine Fiktion sind, hat Deborah Feldman mittlerweile tatsächlich in Berlin eine Wahlheimat gefunden und berichtet von viel Solidarität. In Interviews betont sie, dass diese Erfahrungen für sie nachhaltiger sind als der immer noch herrschende Antisemitismus. Diesbezüglich betrachtet Unorthodox Berlin durch die rosarote Brille und spielt in der wortwörtlichen Berliner Mitte – Szenen aus Neukölln gibt es keine. 

Auch zeigt sie nur einen winzigen, extremen Ausschnitt der jüdischen Religion, der keinesfalls repräsentativ sein kann und darf. Allerdings erhebt die Serie aber auch keinen solchen Anspruch und etwas eigenes Denken darf ja schon vorausgesetzt werden. Durch die Blume wird auch auf den Unterschied zwischen Israel, säkularem Judentum und ultra-orthodoxer Religion hingewiesen. Nicht nur durch die Figur der schlagfertigen Israelin Yael, sondern auch als Badboy Moishe verächtlich auf die vermeintlichen „Zionisten“ in Israel spuckt. Die Serie zeigt also eine extreme Subgruppe, aber diese mit großer Detailtreue und starken Bildern. Untermalt mit atmosphärischer Musik und einer kleinen Prise Pathos ist Unorthodox im annehmbaren Maß weichgespült und wirklich sehenswert.