2019 wird zum ukrainischen Schicksalsjahr. Die nationalen Wahlen entscheiden über die Fortsetzung des schleppenden Reformkurses und die Europawahl mit darüber, ob das Land dem russischen Großmachtstreben zum Trotz souverän bleiben kann. In beiden Wahlen drohen Populisten die Oberhand zu gewinnen. Während die Ukraine in Europa nur Zaungast bleibt, kämpfen Aktivist*innen innerhalb des Landes für Zivilgesellschaft und Demokratie. Ihre Gegenspieler sind Desinteresse, mangelnde politische Bildung und die allgegenwärtige Wirtschaftskrise, die das Land seit dem Maidan gefangen hält

Was unterscheidet Vladyslav Faraponov und Maria Tereshuk von anderen jungen Ukrainer*innen? Er ist 19 Jahre alt und studiert Jura in Kiew. Sie ist 30, Doktorin der Politikwissenschaft und Mutter eines dreijährigen Sohns. Auf den ersten Blick trennt die beiden nicht viel von ihren ukrainischen Altersgenossen. In Wahrheit gehören sie aber zu einer winzigen Minderheit: Sie engagieren sich politisch, und das auch noch als Sozialdemokraten.

Sich zu beteiligen und darüber hinaus auch noch einem konkreten politischen Lager wie den Liberalen, Grünen oder eben Sozialdemokraten zuzuordnen, ist in der Ukraine sehr unüblich, besonders für Jugendliche. Den allermeisten jungen Ukrainer*innen fällt es schwer, sich innerhalb eines politischen Koordinatensystems zwischen rechts und links einzuordnen, auch wenn sie oft konkrete Vorstellungen für die Zukunft ihres Landes haben. Wer in Kiew mit Beobachtern der politischen Szene spricht, der stößt immer wieder auf diese eine Formel, mit der sie die politische Stagnation erklären, die die Ukraine seit dem Maidan gefangen hält: Politische Illiteralität verhindert den demokratischen Aufbruch, den auf dem Maidan seinen Anfang hätte nehmen können.

„Die Menschen in der Ukraine haben im Allgemeinen keinen Begriff von der Bedeutung politischer Ideologien, sie können sich nicht auf einem politischen Spektrum zwischen rechts und links einordnen“,  sagt Marcel Röthig, Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew, auf einer Podiumsdiskussion im Kiewer Regierungsviertel. Diese Orientierungslosigkeit vergiftet das gesamte politische System, das bleibt von der Veranstaltung hängen: Durch sie bleiben Parteien konturlos, Klientelwirtschaft kann ungehindert blühen. Das wirkt sich auch negativ auf die Wahlbeteiligung aus, vor allem bei jungen Wähler*innen.

Generation Z interessiert sich nicht für Politik

„Die Jugend stellt in keinem Land der Welt die politisch aktivste Kohorte, aber in der Ukraine, in der erst vor kurzem die Revolution der Würde mit einer riesigen Freiwilligenbewegung stattgefunden hat, würde man doch annehmen, dass sich mehr Jugendliche für Politik interessieren würden. Aber nur etwa zehn Prozent der Befragten, die zwischen 14 und 29 Jahre alt waren, haben angegeben, sich überhaupt für das politische Tagesgeschehen zu interessieren,“ sagt Kateryna Zarembo, die die erste umfassende politische Jugendstudie der Ukraine koordiniert hat, die im Sommer 2018 erschienen ist.

Zarembo, Ende 30, ist stellvertretende Forschungsdirektorin am New Europe Center, das nahe des bei Touristen beliebten Sophienplatzes mitten in der Kiewer Altstadt liegt. Das New Europe Center ist eine NGO, die sich unter anderem für die Verankerung europäischer politikwissenschaftlicher Forschungsstandards in der Ukraine einsetzt.

Zarembos Jugendstudie, die nach ihrer Zielgruppe „Generation Z“ benannt ist, lässt tief blicken in die Lebenswelt junger Ukrainer*innen. Ihr Team fand heraus, dass die ukrainische Jugend überwiegend pro-europäisch und stolz darauf ist, Ukrainer zu sein. Die Hälfte betet und denkt, dass das richtige Alter zum Heiraten 25 ist. Neben der Tatsache, dass Generation Z Politiker*innen für absolut nicht vertrauenswürdig hält, besteht in der ukrainischen Jugend Konsens darüber, dass Korruption eines, wenn nicht das, größte zeitgenössische ukrainischen Übel ist. Ein „traditionelles Familienbild“ ist noch so ein Konsens. Homosexuelle hätten die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen noch weniger gern zum Nachbarn als korrupte.

Unwissen ist ein Nährboden für Populismus

In dieser Gemengelage aus Misstrauen, mangelnder politischer Bildung und allgemeinen Desinteresse können sich immer wieder neu gegründete wie alte populistischen Parteien erfolgreich als progressive Kräfte verkaufen, weil nur wenige Wähler*innen einen kritischen Blick auf programmatische Widersprüche und unstimmige Politpraktiken entwickeln.

Die Frage ist: Was kommt zuerst, Henne oder Ei? Sind es die Bürger*innen selbst, die die politische Krise verantworten, weil sie die Politiker*innen achselzuckend gewähren lassen, oder sind vielmehr die Parteien in der Pflicht, klare Alternativen anzubieten, anstatt sich zu  politischen Bütteln des Oligachenystems machen zu lassen?

Für Kateryna Zarembo ist die Lage eindeutig: Die politische Illiteralität habe ihren Ursprung in der Schule. „In der Schule hier gibt es keine wie auch immer geartete politische Bildung, gar keine”, sagt Zarembo. Das sei ein Teil der Wahrheit.  Auf der anderen Seite stehen die Parteien: „Die politischen Parteien der Ukraine benutzen das Links-Rechts-Schema nicht. Sie präsentieren sich nicht als links oder rechts oder Parteien der Mitte oder als post-Marxistisch oder sonst etwas. Alles, was sie benutzen, sind Versprechungen. Versprechungen sind die einzigen Charakteristika der verschiedenen Parteien.“ Deswegen treffe auf fast alle Parteien der Ukraine nur das Label „populistisch“ zu, mit Ausnahme vielleicht des ultrarechten Rechten Sektors, sagt Zarembo.

Für andere Beobachter  spielt der Negativeinfluss des korrupten Parteiensystems eine größere Rolle als mangelnde politische Bildung. Oksana Dutchak, die als Soziologin für die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew arbeitet und stellvertretende Direktorin des Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung ist, sagt: „Die Wahl ist nur Theater. Ich habe noch nie gewählt und ich werden 2019 auch nicht wählen gehen. Es kann doch nicht nur darum gehen, Gesichter auszutauschen!“ Vielmehr sollte es darum gehen, alternativen politischen Ideen Raum zu geben, da herrsche aktuell noch ein Vakuum, sagt Dutchak. Bis das geschehe, könnten die Oligarchen mit ihren Ressourcen weiterhin aus dem Nichts Parteien erschaffen und die Demokratie in der Ukraine lähmen.

Letzte Hoffnung Fernsehstar?

Die ukrainische Jugend jedenfalls scheint ihre politische Illiteralität noch anfälliger für populistische Parteien zu machen als andere Generationen. Das erklärt, warum Vladimir Zelensky, Comedian und Hauptdarsteller der ukrainischen Hit-TV-Show „The Servant of the People“, unter den Angehörigen von Generation Z aktuell der beliebteste Kandidat in den näher rückenden ukrainischen Präsidentschaftswahlen ist.

Das Fehlen echter politischer Wahl- und Identifikationsmöglichkeiten zusammen mit dem Mangel an politischem Distinktionswillen erklärt auch, warum sich die ukrainische Bevölkerung zur Orientierung vornehmlich vermeintlich vorpolitischer Bezugsgrößen wie der Nation bedient.

„Gesellschaftlichen Konflikte in der Ukraine konkurrieren zwar miteinander, kein Konflikt kann allerdings mit dem Konflikt um die Nation mithalten. Die politische Grundfrage der Bevölkerung lautet: Wie stehst du zur Nation?“, sagt André Härtel, der für die DAAD die Deutschland- und Europastudien an der Kiewer Mohyla-Universität betreut und sich glänzend auskennt im politischen Kiew. Die Bevölkerung spalte sich dabei in progressive Reformer und Status-quo-Orientierte, sagt er.

Grundlagenbildung und normative Grundhaltungen sollen gerade der Jugend als Kompass dienen

Weil sie diese Problemanalyse – politische Illiteralität, Misstrauen und Desinteresse lähmen das System – teilt, widmet sich die SD Platforma, die als dezidiert sozialdemokratische NGO eine der wenigen ideologisch klar umrissenen Kräfte in Kiew ist, deshalb ausschließlich der politischen Bildungsarbeit. Partei will sie ausdrücklich nicht werden, sondern die Wähler*innen stattdessen mit einem Kompass für das politische System, also grundlegender politischer Bildung und normativen Werten, ausstatten.

„Ohne Prinzipien ist man verloren, in der Masse der Informationen genauso wie in der Masse der verschiedenen politischen Parteien. Ohne Prinzipien wird man zur desorientierten Person. Und desorientierte Personen sind leichte Opfer für alle Arten von Einflüsterern,“ sagt der junge Polit-Aktivist und Gründer von SD Platforma Bogdan Feres, der am Rande einer Veranstaltung eigentlich schon längst zum nächsten Termin aufbrechen müsste.

Vladyslav und Marina, die ungewöhnlich politikinteressierten jungen Ukrainer*innen vom Anfang des Textes, sind beide bei SD Platforma aktiv. Vladyslav schreibt Info-Texte und Artikel für den Internetauftritt der NGO, Marina ist die koordiniert bei der Platform of Progressive Teachers landesweite Lehrerfortbildungen, in denen es unter anderem um  Grundlagen demokratischer Meinungsbildung  geht.

Der Maidan ist für beide ein entscheidender Fluchtpunkt ihrer Politisierung. Vladyslav war 15, als die Proteste eskalierten. „Der Maidan hat meine gesamte Lebensplanung verändert. Vorher wollte ich das Land eigentlich verlassen und zum Studieren ins Ausland,“ sagt er. Marina, die kurz nach den Protesten ihr erstes Kind bekommen hat, sagt, dass ihr der erst der Maidan klargemacht habe, dass sie in die Politik gehen müsse: „Ich dachte, ich muss dieses Land verändern, für mich, für meinen Sohn und für unsere Zukunft.“

Am Ende sind Sicherheit und Geldbeutel ausschlaggebend

Das politische Bildung kein Allheilmittel ist, ist auch den SD-Aktivist*innen bewusst. Neben der politischen Orientierungslosigkeit, dem korrupten Parteiensystem und dem Krieg im Osten ist es auch die wirtschaftliche Rezession, die den demokratischen Aufbruch der Ukraine behindert. „Grundsätzlich finden die Leute, dass die Ukraine sich seit dem Maidan in die richtige Richtung, also in Richtung Europa, in Richtung Souveränität, bewegt“, sagt Vladyslav. „Aber zuallererst schauen sie momentan in ihre Brieftaschen. Das ist für viele gerade der wichtigste Aspekt,“ sagt er.

2019 wird mit den Präsidentschafts- und Europawahlen ein Superwahljahljahr für die Ukraine. Im Europaparlament könnten russlandfreundliche Kräfte Einfluss gewinnen und die Sanktionen lockern, die die EU Russland nach der Krim-Annexion auferlegt hatte. Der Kreml hätte dann noch mehr Freiräume in ukrainischen Osten. Und solange dort der Krieg tobt und viele Menschen ihre Lebenshaltungskosten kaum bewältigen können, werden populistische Kräfte 2019 in Kiew wohl die Oberhand behalten können. Das Rennen, so die aktuellen Zahlen, wird sich wahrscheinlich zwischen Petro Poroschenko und Julia Timoschenko entscheiden.

Ob in Zukunft Programme, nicht Personen Wahlen entscheiden werden, hängt von der jungen Generation in der Ukraine ab. Die hat momentan aber andere Sorgen.

Finanzielle und menschliche Sicherheit seien aktuell die Schlüsselanliegen der ukrainischen Jugend, sagt Kateryna Zarembo. „Kaum jemand kümmert sich darum, ob du jetzt links oder rechts bist, solange du beides garantieren kannst“, sagt sie.