Illustration: Matteo Anselmo
Bestimmte Formen von Sexualität sind gefährlich, wenn man sie auslebt. In Berlin gibt es seit einigen Jahren ein Projekt, das Menschen mit pädophilen Neigungen unterstützt, ihre sexuellen Wünsche nicht in die Tat umzusetzen – auch mit Hilfe von Medikamenten.
Das Wasser steht ihm bis zum Kinn. Eine falsche Bewegung, ein Moment der Unaufmerksamkeit und es strömt ihm durch Mund und Nase und verschließt seine Atemwege. Dann ist alles zu spät.
Das Beispiel hat er sich nicht selbst ausgedacht, aber Max* verwendet es gern, um zu beschreiben, wie er sich gefühlt hat, vor ein paar Jahren, mit Anfang 20. „In der Zeit habe ich gemerkt, dass ich eigentlich gerne mit einem Kind Sex haben würde und, dass das, was in mir rumort, nicht nur lästig und doof ist, sondern gefährlich werden könnte.“
Max ist heute um die 30, hat eine Schwester. Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt er als eher durchwachsen. Eigentlich ein ziemlich normaler Typ, wäre da nicht sein Begehren beim Anblick viel zu junger Körper. „Ein kleiner Unterschied mit weitreichenden Konsequenzen“, erklärt Jens Wagner, Pressesprecher des Präventionsprojekts Kein Täter werden an der Berliner Charité, an das sich Max wandte. „Die wenigsten Menschen wissen, dass pädophil nicht gleich Kindesmissbrauch bedeutet.“
Mit Pädophilie leben lernen
Pädophile Menschen würden schon sehr früh unter ihrer Neigung leiden. Schon in der Pubertät müsse man ständig aufpassen, dass man nicht ertappt wird, weiß Wagner, „sonst muss man mit sozialer Ausgrenzung rechnen“.
Angst vor einem unfreiwilligen Coming-Out hatte Max nicht. Er wollte mit anderen sowieso nichts zu tun haben, Gruppenzwang war für ihn kein Thema. Er nennt es Glück im Unglück, dass er sich nie mit den Kindern in seinem Alter verstand. Über seine Gefühle musste er schweigen: „Ich habe das alles mit mir ausgemacht“, erzählt er, „Ich dachte, das wäre ein Empfinden, das bei allen Männern so ist – da redet bloß keiner drüber.“ Seine Neigung empfand er aber immer als „ein bisschen zu viel“. Eben wie Wasser, das einem viel zu hoch steht. Gibt man sich der Pädophilie hin, ertrinkt man in den Folgen seiner Handlung.
Nur eines war für Max von vornherein klar: Sex ist etwas, das nie passieren dürfe. „Damit kommen Kinder nicht klar, das schadet ihnen.“ In seiner Phantasie allerdings passiert es und manchmal dominieren die Bilder sein Denken. Mit niemandem darüber sprechen zu können, machte es nicht leichter.
Im Rahmen von Kein Täter werden sollen die Teilnehmer lernen, ihre Neigung zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Gleichzeitig sollen sexuelle Übergriffe verhindert und ein Problembewusstsein hinsichtlich des Konsums von Kinderpornografie geweckt werden. Genaue Zahlen existieren nicht, man geht aber davon aus, dass ein Prozent der Menschen pädophile Neigungen haben. Die meisten von ihnen sind Männer. Um zur Therapie zugelassen zu werden, melden sie sich anonym per Telefon oder Mail. In einem intensiven Vorgespräch und anhand zahlreicher Fragebögen wird die Sexualität der potenziellen Teilnehmer umfassend exploriert. „Für viele ist es das allererste Gespräch, in dem sie überhaupt über dieses Thema reden können – nach manchmal 40, 50, 60 Jahren. Das ist schon schlimm“, meint Andreas*, ein ehemaliger Teilnehmer des Projekts und heute guter Freund von Max.
Androcur und Zoladex gegen das Testosteron
Andreas ist ein paar Jahre älter als Max. Damals, als er sich bei dem Projekt meldete, lief gerade ein Verfahren gegen ihn. Der Vorwurf: Konsum von Missbrauchsabbildungen. Ein Problembewusstsein sei bei ihm schon immer da gewesen – mehr oder weniger, sagt er. Aber es hätte Verzerrungen gegeben: „Wenn die Kinder offener waren oder gelächelt haben, war es einfacher, sich die Sache kleinzureden.“
Zusammen mit Max betreibt er die Webseite schicksal-und-herausforderung.de, auf der sie über Pädophilie aufklären, eine Anlaufstelle für andere Pädophile bieten, Hilfe vermitteln und sich deutlich gegen Sex mit Kindern und den Konsum von Missbrauchsdokumentationen aussprechen.
Beide haben während des Therapieprogramms Medikamente genommen, die ihren sexuellen „Trieb“ dämpfen sollten. Wobei diese Wortwahl etwas unglücklich ist. Denn genau wie nicht jeder Mann jede Frau anspringe, erklärt Andreas, „fallen Pädophile auch nicht automatisch jedes Kind an“. Es müssten sehr viele Eigenschaften zusammenkommen, damit man ein Kind auch attraktiv finde. Und selbst dann liege es in der Entscheidung jedes Einzelnen, seinen Verstand über das Verlangen zu stellen.
Ein Phänomen, das jedoch im Zusammenhang mit Präferenzstörungen wie der Pädophilie auftreten kann, ist die „eskalierte Paraphilie“, sagt Till Amelung, Mitarbeiter am Institut für Sexualmedizin der Charité und langjähriger Therapeut beim Präventionsprojekts Kein Täter werden. Die Männer seien so fixiert auf ihre sexuellen Gedanken und entwickelten so starke Gefühle, dass sie beispielsweise aus der Bahn aussteigen müssten, wenn dort ein Kind ist, das sie anziehend finden.
Medikamente wie Androcur oder Zoladex versprechen Abhilfe, indem sie die Bildung beziehungsweise die Wirkung des Sexualhormons Testosteron senken. Dadurch nehmen die sexuellen Fantasien ab, der Wunsch nach Selbstbefriedigung sinkt.
Jeder reagiert anders
Eine Methode, die wirkt: „Die Gefühle waren weg. Es war wie eine Auszeit“, erinnert sich Andreas, der über ein Jahr Zoladex einnahm. Irgendwann habe er dann angefangen, massiv zu schwitzen. Dazu hätten sich noch Knochenschmerzen entwickelt, besonders in den Beinen. Nach einem weiteren halben Jahr hielt er es nicht mehr aus – er musste das Zoladex absetzen.
Auch für Max blieb die Behandlung mit Androcur nicht ohne Folgen. Die Therapie fällt mitten in seine Studentenzeit. Nach einem Jahr fing er an, depressiv zu werden. Bei den Vorlesungen war er manchmal nicht ganz da, sein Studium verzögerte sich. „Ich habe es dann eigenmächtig abgesetzt.“, sagt er.
Therapeut Amelung ist sich solcher Nebenwirkungen bewusst. Er betont aber gleichzeitig die Freiwilligkeit der Einnahme. „Außerdem reagiert jeder anders“, sagt der Mediziner, er kenne einen Patienten, der nehme die Medikamente schon seit über sieben Jahren.
Auch wenn Max und Andreas die medikamentöse Behandlung abbrechen mussten, bezeichnen beide die Zeit mit den „Triebdämpfern“ als bereichernde Erfahrung. Zusammen mit der Therapie im Präventionsprojekt hätten sie gelernt, besser mit ihrer sexuellen Neigung umzugehen und sich ein paar Sandbänke geschaufelt, für Phasen, wenn ihre Sexualität den Pegel wieder steigen lässt. Angst, zu ertrinken, haben sie nicht.
Die Einnahme von triebsenkenden Mitteln, so sagt Andreas, sei eine höchst verantwortungsvolle Handlung, bei der man soweit gehe, sogar eigene Beeinträchtigungen oder sogar Schäden in Kauf zu nehmen, um Prävention zu betreiben. Ob man sich am Ende tatsächlich dazu entschließt, ist eine individuelle Entscheidung und – darin stimmen die beiden Pädophilen mit Therapeut Amelung überein – eine solche müsse es auch bleiben.
* Namen geändert. Auf ihrer Webseite treten die beiden unter den Namen Max Weber und NewMan auf.
Dieser Artikel stammt aus der UnAuf 232 (Oktober 2015).