Geschrieben von Daniela Sophie Michel

Budapest, 22. Oktober 2011, zwischen Tag und Nacht

 

 

Der in Budapest lebende, 50-jährige Schriftsteller István Kemény hat bereits zahlreiche Lyrik und Prosatexte veröffentlicht und dafür einige wichtige Preise und Stipendien erhalten. Schon während seines Studiums der Geschichte und ungarischen Literatur war er eine bekannte Figur im literarischen Leben der Hauptstadt . Nicht umsonst war er Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, veröffentlichte seine Gedichte in der Zeitschrift „Kafka“ und gewann im Jahr 2007 den Laurel-Preis der Republik Ungarn. Gestern traf ich ihn im traditionsreichen Centrál Kávéhá, und wir sprachen über seine zuvor schriftlich formulierten Antworten auf meine Fragen zur Politik und Kultur des Landes.

 

 

Wie würdest Du die Atmosphäre in Ungarn zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschreiben?

Es ist schwer über die Atmosphäre ganz Ungarns zu sprechen, aber ich weiß, dass eine große Enttäuschung vorherrscht, dass sich Hoffnungen der letzten 21 Jahre nicht erfüllt haben. Eine Enttäuschung hinsichtlich der Europäischen Union und auch im Bezug auf Ungarns politische Klasse. Vielleicht ist die Enttäuschung in Griechenland im Moment größer als hier, aber ich bin mir sicher, dass der größte Teil der ungarischen Bevölkerung sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus betrogen fühlt. Sie haben das Gefühl immer bedürftiger zu werden und sehen sich als Bürger zweiter Klasse innerhalb der Europäischen Union. Die Zukunft schätzen sie mehr und mehr als unsicher ein.

 

Was denkst Du über die neue Verfassung? Und wie beurteilst Du das neue Mediengesetz?

Ein neues Mediengestz zu verabschieden war schon seit Jahren nötig in Ungarn. Eine Reform war auch schon von vorhergehenden Regierungen geplant. Ich bin Schriftsteller, kein Jurist: Ich kann nicht über die neue Verfassung oder das Mediengestz urteilen. Ich kenne nur einen Fehler des Mediengesetzes ganz genau: es beinhaltet die Möglichkeit die Medien unter politische Kontrolle zu bringen. Es ist nur eine Möglichkeit, das bedeutet nicht, dass es eine Zensur der ungarischen Presse gibt. Aber diese Situation kann Angst vor einer möglichen Zensur verursachen. Angst ist ein ernstzunehmender Zustand in einer Gesellschaft. Dieser Fehler im Text des Mediengesetzes muss korrigiert werden.

 

Marco Schieker, der Chefredakteur des Pester Lloyd, sagte, dass  das Mediengesetz nur “die Spitze des Eisbergs” ist. Was hälst Du von dieser Aussage?

Wenn das stimmt, dann ist der Eisberg ein schrecklich großer. Die ungarische Geschichte im 20. Jahrhundert und all die unverarbeiteten sozialen Traumata sind im Inneren eingefroren. Und die Enttäuschung der letzten 21 Jahre ebenfalls. Im April 2010 hatte die überwältigende Mehrheit der Ungarn genug von der korrupten und ineffizienten sozialistischen Regierung. Deshalb gewann die Koalition der Mitte-Rechts Parteien bei den Parlamentswahlen eine 2/3 Mehrheit. Die sozialistische Partei (MSZP) und die Liberalen (SZDSZ) brachen zusammen.Es herrscht eine spezielle politische Situation zur Zeit: Die ungarische Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament ist die stärkste in Europa. Seit April 2010 hat das ungarische Parlament unter der Leitung der FIDESZ-Partei eine neue Verfassung, ein neues Mediengesetz und viele weitere wichtige Gesetze verabschiedet. Ich bin mir sicher, dass die FIDESZ-Regierung fair regieren will, aber die Verabschiedung der Gesetze geschieht viel zu schnell. Die Regierung braucht die Hilfe des linken, oppositionellen Flügels  nicht um Gesetze zu verabschieden, aber ich denke, dass es besser wäre mehr mit ihnen zu kommunizieren. Denn gerade jetzt ist Vertrauen das Wichtigste überhaupt in Ungarn:  zu kommunizieren und abermals zu kommunizieren.

 

Was denkst Du über Viktor Orbán? Glaubst Du sein letztendliches Ziel zu kennen?

Meiner Meinung nach ist Orbán der talentierteste ungarische Politiker der vergangenen zwei Jahrzehnte, mit vielen Fehlern. Politiker sind Raubtiere, keine Pflanzenfresser – darüber bin ich nicht glücklich, aber ich glaube es ist eine Tatsache. Orbán ist da keine Ausnahme. Aber sein größter Fehler ist, dass er nicht fähig ist vernünftig mit den Linken zu kommunizieren. Er hat nichts gegen sein Image unternommen, dass er ein Monster sei, der ein Diktator werden will. Das ist eine alte Geschichte: Linke haben seit dem Regimewechsel irrationalerweise Angst vor ihm. Im Frühjahr 2010 warteten die Rechten auf Orbán wie auf auf Jesus Christus und die Linken warteten auf ihn, wie die Affen auf Kaa, die Python aus dem Dschungelbuch: ‘Bitte friss uns…’. Das Ergebnis dieser Konstellation ist, dass Orbán und seine Regierung glauben, das Recht zu haben, die Linke zu ignorieren. Und diese Ingnoranz bewirkt eine Atmosphäre der Panik bei den Linken. Es gibt keine Apokalypse in Ungarn, aber der Premierminister kann es sich nicht erlauben von einem Drittel der Bevölkerung gefürchtet zu werden.

 

Glaubst du, dass Orban sich vor Akademikern, die seine Politik kritisieren, fürchtet? Oder warum hat er beispielsweise gegen Philosophen, die ihn kritisierten, eine Verleumdungskampagne lanciert?

Ich weiß nicht, wovor Viktor Orbán Angst hat und was er fürchtet. Nur er weiß das. Aber ich wäre glücklich, wenn er sich mehr für die öffentliche Meinung in Europa interesieren würde. Orbán hat eine schlechte Presse im Ausland seit den Neunzigern. In den letzten Jahren war er der Bad Boy in den europäischen Medien: Er kritisiert die EU, attackiert multinationale Banken, er ist ein Populist, etc. Aber leider ist die EU wirklich in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, die internationalen Multis entziehen Osteuropa wirklich jedes Jahr Millarden Euro und Osteuropäer schnappen wirklich nach Luft unter dem Druck der Besteuerung. Aber über diese Probleme in der Öffentlichkiet zu reden ist nicht “comme il faut”. Viktor Orbán ist einer der wenigen osteuropäischen  Politiker die darüber sprechen. Deshalb braucht er keinen Skandal, wie den um die Philosophen im Januar. Es ist dumm und unnötig  derartige Konflikte heraufzubeschwören. Es war eine traurige und unfaire Aktion der rechten Seite.

 

Wie urteilt Dein akademisches Umfeld über das neue Mediengesetz?

Zuallererst gibt es nicht ein einheitliches akademisches Umfeld in Budapest: es gibt zwei. Sie bekämpfen sich seit mehr als 100 Jahren. Den rechten Akademikern wird seit 1989 gesagt, dass die linken Akademiker Kommunisten seien. Die Akademiker der Linken haben während dieser zwei Jahrezehnte in allen Handlungen der Rechten die Rückkehr des Hitlerismus heraufbeschworen. Aber glücklicherweise gibt es in Budapest sowohl viele rechte als auch linke Akademiker mit klarem Verstand – auch in meinem Umfeld. Ihnen ist bewusst, dass das Mediengesetz fehlerhaft ist und sie wissen von der Notwendigkeit einer Überarbeitung. Aber nicht, weil es von der  “teuflischen Rechten” verfasst wurde, sondern weil es nicht perfekt ist.

 

Hat das Mediengesetz einen Einfluss auf deine Arbeit?

Wenn ich schreibe, denke ich nicht an das Mediengesetz. Aber ich muss dir was erzählen. Das ist das erste politische Interview in meinem Leben. Als du mir schriebst, dass du mich gerne zum neuen Mediengesetz befragen willst, bat ich um ein schriftliches Interview. Es ist ein außerordentlich wichtiges Thema, also wollte ich nichts dummes sagen. Gestern zeigte ich alle meine  Antworten, außer dieser, zwei Freunden von mir: einer von ihnen von der rechten Seite einer von der linken. Sie sind beide Autoren und sehr clever. Und beide begannen mich anzuschreien: “István, bist du verrückt?! Du ruinierst deine Zukunft! Du ruinierst deine Reputation! Antworte nicht, um Gottes Willen!” Beide sahen den selben Text, einer las darin Fidesz-Propaganda, der andere fand deine Fragen tendenziös und hatte das Gefühl es ginge bei diesem Interview nur darum, dass ein weiterer ungarischer Schriftsteller der westlichen Presse sagt, dass es eine Diktatur in Ungarn gibt. Diese kleine Geschichte zeigt die paranoide Lage auf. Und ich denke, diese paranoide Angst, meine, ihre und die aller Ungarn, ist das größte Problem des Landes. Das neue Mediengesetz ist nur ein Sympton davon.

 

Wie würdest Du die Lage der literarisch-kulturellen Szene in Ungarn beschreiben? Kannst Du Unterschiede feststellen, im Vergleich zum Jahr 2009 zum Beispiel?

Die Situation ist heute härter als sie es im Jahr 2009 war. Die Wirtschaftskrise hat die Kultur und die Literatur erreicht.

 

Wie beurteilst Du die Haltung der Europäischen Union? Sollte die EU stärker in die ungarische Innenpolitik eingreifen?

Die europäischen Medien sollten sich ein authentisches Bild von Ungarn verschaffen. Interesse und auch Nachforschungen vor Ort sind wichtig.

Dafür danke ich Dir sehr!

 

Die Fragen stellte Daniela Sophie Michel

 

Weitere Informationen zum Autor:

http://www.druckfertig.eu/neu/literaturagentur/autoren/kemeny-istvan

http://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/gast.php?id=1151

 

Foto: privat