Tausende demonstrieren am Nationalfeiertag gegen Ungarns Regierung und das politische System

Geschrieben von Christian Meckelburg, Daniela Sophie Michel, Caspar Schwietering und Leonard Wolckenhaar

Budapest, 24. Oktober 2011

Der Himmel über Budapest ist an diesem Sonntag besonders stark bewölkt. Es ist der 23. Oktober, ungarischer Nationalfeiertag zum Gedenken an die Niederschlagung des Aufstands 1956. Auf der Elisabethbrücke im Herzen der Stadt hat sich die Demonstration „Don’t you like the system? Protest!“ angekündigt, sie wird von der Organisation „One Million for the Freedom of Press in Hungary“ veranstaltet. Auf einer großen Leinwand strahlt die ungarische Nationalflagge, sie bietet einen eindrucksvollen Kontrast zum tristen Himmel. In ihrer Mitte prangt eine Orange, das Symbol für die Regierungspartei Fidesz. Eine Animation lässt diese im nächsten Moment verschwinden und zeigt dafür einen schwarzen Kreis, der immer wieder durch die Gesichter verschiedener Redner gefüllt wird.

Róbert Fölket hat die Demo mitorganisiert. Foto: privat

„Die Demonstration soll dazu dienen, dass die Leute wieder für die Demokratie aktiv werden“, erklärt Róbert Fölket, einer der Organisatoren der Demonstration im Gespräch mit der unauf. Die Protestaktion richte sich gegen das System. „Orbán vernichtet die Demokratie und die Opposition ist nicht in der Lage, diese zu verteidigen. Daher gibt es diese neue Bewegung“, bilanziert er. Die „One Million for the Freedom of Press in Hungary“-Bewegung lehnt sich an die polnische Solidarność an und soll all jenen ein Heim bieten, die mit der Politik unzufrieden sind und das außerhalb des Parteiensystems. „Wenn aus dieser Bewegung aber eine neue Partei entsteht, wäre das natürlich toll“, sagt Fölket hoffnungsvoll. Erstmal stehen aber kleinere Projekte an, wie der Aufruf „Ungarn sucht den alternativen Präsidenten.“ Jeder Bürger kann Vorschläge einreichen, am Ende wird ein symbolischer „Anti-Orbán“ gewählt. Die sich über Facebook verbreitende Bewegung sieht er auch als ein Sammelbecken des Protests: „Jeder kann berichten, was im Land undemokratisch abläuft und es damit öffentlich machen.“ Fölket fühlt sich als Gleicher unter Gleichen, ist von keiner Vereinigung delegiert, sondern einfach als Bürger zu den Organisatoren gestoßen. Mit dem heutigen Tag als vorläufigem Ergebnis ist er sehr zufrieden. Seine Mitstreiter und sich sieht er als Verwandte der „Occupy“-Bewegung: „Überall auf der Welt geht es den Menschen um mehr Partizipation!“ Eine Besonderheit sei, dass alle Gruppen, alle Schichten und jede Altersgruppe an dem Protest teilnehmen. Einige der älteren Teilnehmer halten ihre Regenschirme hoch – auf ihnen haben sie Orangen aufgespießt.

Unter den vielen Demonstranten ist auch der 29-jährige Baktay György. Der Grund für ihn, ur Demo zu kommen, sei der „Schlingerkurs“ der Regierung. György studiert Kommunikationswissenschaften an der Budapester Hochschule für Kommunikation und Business und erklärt: „Die halten uns für Idioten, ich kann mich aber noch an die Lage vor der Wahl erinnern.“ György erzählt, dass die Fidesz-Partei vor der Wahl besonders die Wirtschaftspolitik der alten Regierung kritisiert habe. Vor allem waren es der Wechselkurs der inländischen Währung (Forint) zum Euro und das Wirtschaftswachstum. Beides sei heute unverändert schlecht, so György.

Ein anderer Demonstrant hält ein Schild mit der Aufschrift „Viktor, so war das nicht abgemacht“. Der 21-jährige Soma Ábrahám Kiss befürchtet, dass das Land in eine Diktatur abrutsche. Die Regierung beziehe sich immer auf ihre Zweidrittel-Mehrheit, aber in Wirklichkeit habe sie kaum Befürworter, so der Soziologiestudent von der Budapester Loránd-Eötvös-Universität. Mónika Balkóné Köllö, die Spanisch an der Technischen Hochschule studiert, hält ihre Tochter auf dem Arm und sagt: „Ich bin hier für meine Tochter. Ich mache mir Sorgen um unser Bildungssystem. Diese Pläne zur Hochschulreform… Ich habe Angst, dass ich mein Studium nicht mehr bezahlen kann.“ Neben ihr steht ein junges Paar, Helen Brown und Támas Kovács. Helen Brown erzählt: „Wir sind Nachbarn. Wir haben noch nie miteinander über Politik gesprochen und jetzt treffen wir uns hier auf dieser Demonstration – ganz zufällig.“

Allmählich klart der Himmel über der Donau etwas auf. Dort, am Rande der Brücke steht Ádám Csillag. Er hat eine Filmkamera und ein Stativ geschultert und trägt neben der Brille auf seiner Nase noch eine Lesebrille, die er sich in die Haare geschoben hat. Csillag ist kein Unbekannter in Ungarn. Seit 1984 arbeitet er als freier Filmemacher. „Ich drehe Dokumentationen über soziale und politische Themen“, sagt er. Seine Filme „Dunaszaurusz“ (Donau-Dinosaurier) und „Moment of Freedom“ aus den 80er Jahren begründeten seinen Ruf als kritisches Auge. Von der Orbán-Regierung fühlt er sich gewürgt, denn diese strich die Fördermittel für die unabhängige Filmszene und änderte das Verteilungsverfahren: Fördergelder gab der Staat früher an eine nichtstaatliche Filmstiftung, die diese an die einzelnen Filmemacher vergab. „Nun entscheiden über die Förderungswürdigkeit zwei oder drei Leute direkt im Ministerium“, erzählt Csillag. „Erst war der Film dran, jetzt, wie man sieht, die Theater. So lange bis sie die ganze Kultur dominieren.Ungarn wird zum absoluten Feudalstaat. Wo früher unabhängige Institutionen waren, sind heute nur noch persönliche Abhängigkeiten. Was zählt ist Fidesz-Fidelity.“

Csillag schaut besonders genau hin. Der Filmemacher im Interview mit der unauf. Foto: privat

Csillag ist offensichtlich nicht weniger aufgebracht als die vielen tausend anderen Demonstranten. Immer wieder nickt er Vorbeigehenden zum Gruß zu, viele kennen sich hier. Aber dennoch ist er heute im Dienst: „Wissen sie“, sagt er, „auf das Fernsehen können sie sich in Ungarn nicht verlassen. Heute Abend werden die Bilder höchstwahrscheinlich nur eine kleine Zahl Demonstranten zeigen und die Nachrichten den Aufzug herunterspielen. Deshalb bin ich immer da bei solchen Dingen. Ich filme das, was das offizielle Fernsehen nicht zeigt. Wer mehr als das angepasste Bild sehen will, kann sich meine Filme auf Facebook, Youtube und Vimeo ansehen.“ Er ist begeistert von dem Zulauf und der Größe der Demonstration, findet jedoch falsch, dass es bloß eine Stehkundgebung war. „Wenn hier so eine Kraft  und solch eine Wut so vieler Menschen zusammenkommen, dann muss man das nutzen. Dann muss man sagen, so, jetzt gehen wir zum Parlament und setzen uns davor, bis sich etwas ändert! Aber die Organisatoren“, sagt er und sieht durch die untere seiner Brillen nach hinten, wo eine versprengte Gruppe tiefschwarz gekleideter Nazis von Polizisten abgedrängt wird, „haben anscheinend doch noch etwas Angst.“

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Fotos: privat