Silvan Wagenknecht ist der Initiator von Pulse of Europe in Berlin. Die Bewegung sieht sich selbst als parteiübergreifend und unabhängig. Ihr Ziel: die europäische Idee aktiv mitgestalten, um nationalistischen Tendenzen entgegen zu wirken. Unsere Redakteurin Julika hat mit ihm gesprochen

UnAuf: Gegründet wurde Pulse of Europe 2016 in Frankfurt am Main von den Rechtsanwält*innen Sabine und Daniel Röder. Was hat sich dazu gebracht, die Bewegung nach Berlin zu bringen?

Silvan Wagenknecht: Ja, das stimmt. Pulse of Europe wurde von einem Freundeskreis von Jurist*innen gegründet. Ich habe bei Facebook gesehen, dass es das in Frankfurt gibt und fand die Idee so gut, dass ich sie gerne nach Berlin bringen wollte. Gemeinsam mit einigen anderen Leuten sind wir das dann in Berlin angegangen. Anfangs waren wir acht Leute, mittlerweile um die fünfzehn. In Berlin sind wir ein ziemlich diverses Team. Ich bin mit 21 wohl der Jüngste, die Älteste ist 76. Auch die beruflichen und sozialen Hintergründe sind total unterschiedlich.

UnAuf: Was hat dich zu der Bürgerinitiative gebracht? Auf eurer Website schreibt ihr von der “Europäischen Identität”. Was genau ist denn Europa für dich?

SW: Für mich ist die EU vor allem eine Wertegemeinschaft. Eine Gemeinschaft von Ländern, die sich nach den schlimmsten Ereignissen, die die Menschheit erlebt hat, zusammengeschlossen hat. Völker, die gegeneinander die Waffen erhoben haben, haben diese niedergelegt und arbeiten jetzt zusammen.

UnAuf: Oder haben zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengearbeitet. Inzwischen sind wesentlich mehr Staaten Teil der Europäischen Union als die sechs Gründungsmitglieder von 1957.

SW: Ja, genau. Und es wollen immer mehr Länder dazu kommen. Wir sollten denjenigen, die unsere Werte teilen, Perspektiven der Mitgliedschaft eröffnen.

UnAuf: Daniel Röder erklärt, dass der Brexit und die Wahl Trumps ihn dazu gebracht hätten, die Initiative zu gründen. Ging es dir da ähnlich?

SW: Ja, das waren ausschlaggebende Punkte. Aber auch die Übernahme von Regierungen durch Nationalisten in Ungarn und Polen waren für mich Schlüsselereignisse, die mir gezeigt haben, dass wir für unsere Werte eintreten müssen.

UnAuf: Da gibt es aber dann doch einige Widersprüche. Beispielsweise stimmte Kroatien kurz nach dem EU-Beitritt ab, dass eine Ehe ausschließlich ein Bündnis zwischen Mann und Frau sein könne, obwohl in Europa die Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung verboten ist.

SW: Zur Ehrlichkeit gehört, dass unsere Wertegemeinschaft oft strapaziert wird, auch von innen. In Ungarn und Polen wird der Rechtsstaat im Interesse der Regierungen umgebaut, in Österreich die Pressefreiheit immer offener angegriffen. Wenn unsere Grundwerte angegriffen werden, darf das nicht unbeantwortet bleiben. Die EU sollte sich natürlich auch für die Ermöglichung der gleichgeschlechtlichen Ehe in allen Mitgliedstaaten einsetzen.

UnAuf: Geht es dir bei Europa also mehr darum, die Regierungen zu erreichen oder darum, den Bürger*innen zu zeigen, dass es innerhalb der EU Menschen gibt, die sich für ihre Rechte einsetzen?

SW: Unser Ziel ist es, Bürger*innen zu aktivieren, um gemeinsam zu zeigen, dass wir für die EU einstehen. Unsere Solidarität gilt dabei stets denjenigen, die ihre Grundrechte nicht uneingeschränkt wahrnehmen können. Von den Organisator*innen von Pulse of Europe in Ungarn und Polen kenne ich da sehr bedrückende Geschichten. Gleichzeitig wollen wir den Regierungen zeigen, dass es eine breite Zustimmung in der Zivilgesellschaft für das Projekt Europa gibt. Wir wollen sie damit auch ein bisschen vor uns hertreiben und dafür sorgen, dass sie Europa in Zentrum ihres politischen Handelns stellen. Das können wir schließlich nicht. Das können nur Parteien, Regierungen und Politiker*innen und an diese Aufgabe wollen wir sie erinnern.

UnAuf: In Deutschland finden zahlreiche Pulse of Europe-Veranstaltungen statt. Wie verhält sich das im Rest Europas?

SW: Wir sind europaweit tätig. Es gibt in ganz vielen Ländern und Städten Pulse of Europe-Standorte – sogar in Albanien, das gar kein Mitglied der EU ist. Unser Fokus ist aber in Deutschland. Hier wurden wir gegründet und hier sind auch die meisten Standorte. Auf den Plätzen sind mal mehr Leute und mal weniger. Manchmal machen Standorte eine Zeit lang nichts und andere Standorte in der Zeit mehr. Da muss jedes Team schauen, welche Kapazitäten ihnen zur Verfügung stehen.

UnAuf: Wie viele Leute kommen in Berlin zu euren Kundgebungen?

SW: Bei der allerersten Demo waren es ungefähr 250 Leute. Bei der größten Demo, die wir hatten, waren etwa 7.500 Leute auf dem Gendarmenmarkt. 2018 haben wir dann wieder weniger gemacht. Zur Europawahl 2019 haben wir wieder angefangen.

UnAuf: Wie würdest du die Teilnehmenden beschreiben? Ist Pulse of Europe ein Ausdruck von Politikverdrossenheit?

SW: Dem würde ich ganz vehement widersprechen. Wer politikverdrossen ist, geht wohl kaum an seinem freien Sonntag um 14 Uhr für eine Stunde für die Einigkeit und Weiterentwicklung der EU demonstrieren. Uns wurde auch oft vorgeworfen, dass wir unpolitisch seien oder keine Inhalte hätten. Das finde ich nicht. Für die Europäische Union zu demonstrieren, sich zur europäischen Flagge zu bekennen, ist in meinen Augen etwas hoch politisches.

UnAuf: Auf eurer Website nennt ihr zehn Grundaussagen, die Pulse of Europe erklären. Laut der zweiten Grundaussage steht der Frieden auf dem Spiel. Inwieweit findest du das auf Berlin zutreffend?

SW: Lange Zeit hat es sich angehört wie eine Floskel, wenn man die Europäische Union als Friedensprojekt beschrieben hat. Inzwischen kann man mit der Aussage, so wahr sie auch ist, kaum jemanden mehr überzeugen. Dabei ist sie so richtig. Wer nach einem aktuellen Beweis dafür sucht, der schaue zur nordirisch-irischen Grenze.

UnAuf: Wie erklärst du Leuten, dass es so wichtig ist, an der Europawahl teilzunehmen? Mal abgesehen von der Reisefreiheit oder günstigen mobilen Daten?

SW: Naja, das sind ja gerade Argumente, die jüngere Menschen überzeugen. Sie können über Grenzen hinweg leben und lieben, frei ihren Studien- und Arbeitsort wählen. Oft sind es auch die kleinen Dinge, wie nun mal die wegfallenden Roaminggebühren. Abgesehen von diesen Freiheiten und den damit verbundenen Privilegien, muss man deutlich machen, wie es wäre, wenn wir das nicht mehr hätten. Dass es sich eben nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt, sondern von den Generationen vor uns unter großen Opfern erkämpft und erstritten wurde. Dafür sollten wir dankbar sein.

UnAuf: Und wie ist es mit Menschen, die kein Interesse daran haben, außerhalb von Deutschland zu arbeiten? Oder denen schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen, um innerhalb von Europa zu reisen? Welche Vorteile bietet Europa noch?

SW: Bei der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit oder Reisefreiheit handelt es sich durchaus um privilegierte Freiheiten. Europa bietet aber auch weitere Vorteile wie die Möglichkeit, günstige Medikamente und Lebensmittel mit hohen Standards kaufen zu können. Ohne den europäischen Freihandel wären die Regale so gut wie leer. Auch um die Arbeitnehmer*innenrechte und den Verbraucherschutz stünde es nicht so gut.

UnAuf: Nur wenigen ist bewusst, dass die deutsche Rechtsprechung bis zu 80% von den Vorgaben der EU bestimmt wird.

SW: Genau. Nicht alles, was die EU macht, ist immer dumpf und schlecht und einzig der Wirtschaft dienlich. Es gibt so viele gute Gründe für Europa. Je weiter man schaut, desto mehr findet man.

UnAuf: Zum Beispiel verdanken wir Fortschritte beim Thema Gleichberechtigung größtenteils Europa. Frauen wären ohne Europa in ihren Rechten heute wesentlich schlechter gestellt.

SW: Brüssel und die Europäische Union sind sowieso oft viel progressiver und weiter im Denken als die einzelnen Nationalstaaten. Ich denke da zum Beispiel an Umweltschutz und Datenschutz.

UnAuf: À propos Brüssel. Pulse of Europe wurde wiederholt die finanzielle Unterstützung durch die Kommission angeboten, die ihr aber abgelehnt habt. Wieso das?

SW: Sowohl von politischen Organisationen als auch Institutionen wurde uns schon Hilfe angeboten. Da uns diese Angebote abhängig gemacht hätten, haben wir sie kategorisch abgelehnt. Wären wir von der Europäischen Kommission oder einer anderen Institution gefördert worden, hätten wir uns – berechtigterweise – dem Vorwurf aussetzen müssen, dass wir ein von der EU geschaffenes oder zumindest finanziertes Jubelkommando wären.

UnAuf: Die Berliner Pulse of Europe Initiative wurde 2017 mit dem Europapreis Blauer Bär ausgezeichnet, den beiden Frankfurter Initiatoren Sabine und Daniel Röder wurde sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen. Was unterscheidet euch von anderen Initiativen? Wieso stecht gerade ihr aus den zahlreichen anderen Initiativen hervor?

SW: Pulse of Europe hat 2017 und 2018 tatsächlich viele Auszeichnungen erhalten. Ich glaube, was Pulse of Europe so erfolgreich gemacht hat, ist, dass wir alle, die irgendwie an der Weiterentwicklung und dem Bestand der Europäischen Union interessiert sind, vereinen. Und das aus der Bevölkerung selbst heraus, nicht von oben aufgesetzt. Wie die EU letztlich politisch ausgearbeitet wird, ist nicht unsere Aufgabe auszuformulieren, sondern die der Parteien. So konnten wir Leute von der Linkspartei bis hin zu den den Konservativen erreichen.

UnAuf: Du sprichst bei den Demos auch selbst. Wie findest du passende Themen? Hinzu kommt, dass aufgrund eurer zentralen Lage bestimmt immer wieder zufällig Leute an euren Demos vorbeilaufen. Hast du bestimmte Herangehensweisen, um diese zu erreichen?

SW: Ich moderiere in der Regel unsere Veranstaltungen. Meistens haben wir bei unseren Demonstrationen thematische Schwerpunkte, aus denen sich dann auch die Redebeiträge ergeben. Die von uns eingeladenen Gastredner*innen sprechen dann zu diesen Themen. Zum Beispiel haben wir am 27. Januar, dem Gedenktag zur Ermordung der Europäischen Jüdinnen und Juden Lea Rosh, die Initiatorin des Mahnmals am Brandenburger Tor, eingeladen. Ich persönlich mache mir aber ehrlich gesagt keine Gedanken, wie ich Leute, die da zufällig dran vorbei laufen, erreiche. Ich konzentriere mich auf die Leute, die extra für die Demo gekommen sind. Meine Beiträge sind dabei vor allem grundsätzliche Erklärungen von Pulse of Europe, die Redner*innen bringen die Expertise.

UnAuf: Was würdest du vorschlagen, wenn sich ein*e Leser*in für Europa engagieren will?

SW: Ich würde mich freuen, wenn so viele Menschen wie möglich zu unseren Demonstrationen kommen. Das ist das einfachste, was man machen kann: sich sonntags um 14:00 Uhr eine Stunde Zeit nehmen und auf den Gendarmenmarkt kommen. Schließlich kann man aber politisch vor allem etwas verändern, wenn man einer Partei beitritt. Daher würde ich mir wünschen, dass mehr Menschen einer Partei beitreten. Natürlich sind Bewegungen wie Pulse of Europe wichtig und dass viele Menschen überparteilich zusammen kommen und für ein Thema einstehen. Politische Willensbildung passiert aber nunmal nicht in Bewegungen, sondern in Parteien.