Der Protest der Aktivist*innen im Hambi hat sich ausgezahlt: Der Wald darf bleiben, zumindest vorerst. Die erfolgreichen Besetzer*innen sagen: Reichtum und Besitz dürfen keine Rechtfertigung für Umweltzerstörung sein. Unser Redakteur Gabriel Rinaldi hatte sie bereits im Juni in ihren Baumhäusern im Hambacher Forst besucht

Direkt neben Europas größtem Braunkohletagebau sind die Straßenschilder voller Aufkleber. Ein seltsamer Anblick mitten in der Provinz. Von Sprüchen gegen die Polizei bis hin zu ökopolitischen Forderungen ist fast alles dabei. In der nordrheinwestfälischen Idylle sind diese Aufkleber im Juni 2018 der einzige Hinweis darauf, dass der Wald besetzt ist.

In mehrstöckigen Baumhäusern, gebaut in vielen Metern Höhe zwischen den Wipfeln, haben Aktivist*innen seit 2012 eine radikal-ökologische Gemeinschaft aufgebaut. Darunter, auf dem mit dichten Unterholz bedeckten Waldboden, beherbergen mit Graffiti übersäte Wohnwägen und Holzverschläge unter anderem ein Gewächshaus, eine Bibliothek und einen Laden mit kostenloser Kleidung. In einer Höhle werden Bücher gelagert, während direkt nebenan Tomaten wachsen.

Geheimwaffe Baumhaus

„Die Präsenz in den Baumhäusern macht ein Fällen der Bäume unmöglich, eine Rodung wird dadurch verhindert“, sagt Luna. Sie ist 21 Jahre alt und lebt bereits seit drei Jahren in diesem Wald. Die Baumhäuser sind die Geheimwaffe der Besetzer*innen. Weil sie über dutzende kreuz und quer zwischen den Baumkronen gespannte Seile miteinander verbunden sind, muss im „Rodungsfall“ niemand auf den Boden gehen.

Auf zehn bis 30 Meter Höhe gibt es fast alles, was zum Überleben notwendig ist. In einer fast voll ausgestatteten Küche in einem der Baumhäuser kann Essen für die gesamte Crew zubereitet werden, die vollständig in gemütlich eingerichteten Schlafbereichen hoch über dem Waldboden unterkommen kann. In einigen Baumhäuser gibt es WLAN, andere sind sogar beheizt. Es gibt FIT- (Frauen, Inter, Trans-) und LGBTQ-Baumhäuser, Gemeinschaftsbereiche und Lagerräume für Kleidung und Werkzeug auf dem Boden.

Das verbaute Holz stammt dabei nicht aus dem Hambacher Forst. „Es kommt von abgestorbenen Bäumen und Spendern“, sagt Blue. Im Dorf „Oaktown“ sind zwei Holzkonstruktionen – eine Plattform und ein Baumhaus – durch eine Hängebrücke verbunden.

Es riecht nach Schweiß und Holz

Aus einer der kleinen Küchen zwischen den Baumwipfeln steigt der Duft von Gemüse auf, eine Aktivistin brät Zucchini an. In dem grob gezimmerten Raum stapeln sich Einmachgläser mit Gewürzen und Dosen voller Fertiggerichte. Viele Aktivist*innen ernähren sich vegan, sagt Luna. Erst die Aussicht aus einem der hoch gelegenen Baumhäuser auf das kleine Dorf verdeutlicht, wie isoliert die ungefähr 40 Aktivist*innen leben: Keine Häuser, keine Straße und kein Auto weit und breit. Nur die Weite des Waldes und eine nahezu gespenstische Ruhe, hin und wieder unterbrochen von Tierrufen.

Über Lunas Küche befinden sich noch zwei weitere Stockwerke, darunter ein Schlafzimmer mit einem schwindelerregenden Ausblick. Es riecht nach Schweiß und Holz, wie überall hier. „Ich spüre eine Freiheit, die ich so nur hier spüren kann, ich erlebe den Baum als Lebewesen“, sagt Luna.

Wer sind diese Menschen, die ihren Alltag hinter sich lassen, um in den Wipfeln des Hambacher Forsts zu leben? „Ich habe von Menschen gehört, die die Schule abgebrochen haben, oder auch von solchen, die auf der Straße waren oder aus dem Kinderheim geflohen sind, hier kommen die verschiedensten Hintergründe zusammen“.

Manche riskieren ihr Leben für die Bäume

Was sie vereint, ist ihr Widerstand gegen den Kohleabbau. „Das rheinische Braunkohlerevier treibt den Klimawandel massiv voran und ist für uns als Gesamtmenschheit sehr gefährlich“, sagt Luna. Gewalt bei Protesten hält sie in Einzelfällen für gerechtfertigt: „Die Zerstörung hier ist so groß, dass ich es legitim finde, sich mit Gewalt dagegen zu wehren“. Die Arbeiter*innen des Tagebaus sollen dem allerdings nicht zum Opfer fallen, sagt Luna.

Forstbesitzer RWE spricht dagegen von personengefährdenden Aktionen der Aktivist*innen: „Teilweise sind die Tätlichkeiten sogar lebensgefährlich, etwa wenn Braunkohlezüge mit Steinen angegriffen werden“, heißt in einer Broschüre. Von solchen Angriffen will Luna nichts gehört haben, das gelegentliche Blockieren der Hambach-Bahn sei gewaltfreie Routine.

Tägliche Eskalationen habe es jedes Jahr in der Rodungssaison zwischen Oktober bis Februar gegeben. RWE und Polizei versuchten dann regelmäßig das Camp zu räumen und den Wald unter Kontrolle zu bringen, wobei es auch zu Verhaftungen kam. Die Aktivist*innen hätten sich in dieser Zeit immer in den Baumhäusern verschanzt und sich an den Bäumen festgekettet, sagt Luna. Das habe die Räumungsversuche deutlich erschwert und verlangsamt. Manche Aktivist*innen seien so weit gegangen, ihr Leben für die Bäume zu riskieren. „Manche lassen sich an den Verbindungssäulen zwischen den Baumhäusern herunter hängen, damit die Polizei die Seile nicht durchschneiden kann“, sagt sie.

Jeder für sich und gegen das System

„Jeder und jede ist für sich selbst verantwortlich“, sagt Blue, der im Moment so etwas wie der Pressesprecher des Camps ist. Das gelte nicht nur für die Protestaktionen, sondern auch für das Zusammenleben im Camp. „Wir sind ein anarchistisches Projekt und wollen das auch so leben“, ergänzt Luna. Jedes Dorf kümmere sich basisdemokratisch um Versorgung und Organisation, es würden Workshops für Baumhausbau, Klettern oder Yoga angeboten.

Ihr Gemüse bauen die Aktivist*innen selbst an, der Großteil der Lebensmittel kommt allerdings von außen: „Wir bekommen lokale und internationale Unterstützung, außerdem gehen wir containern“, sagt Luna. Das Containern sieht sie als wesentlichen Teil ihres ökologischen Kampfs: „Es werden doppelt so viele Lebensmittel produziert, wie die Weltbevölkerung braucht. Ich sehe es als politisch sinnvolle Handlung, sich diese antikonsumistisch – also freegan – zu nehmen, notfalls durch Diebstahl oder Plünderung.“

Ein anderes Grundbedürfnis ist die Hygiene, die teilweise eine Herausforderung darstellt: „Wir sammeln Regenwasser und haben Solarduschen. Die Menschen duschen hier deutlich weniger als es gesellschaftlich üblich ist, aber es funktioniert“, meint Luna.

„Ein Gelände gehört denen, die es nutzen, also den Tieren und auch ein Stück weit uns, die wir hier leben“, so Luna. Dass der Wald rechtlich gesehen RWE gehört, sei für sie irrelevant. „Nur weil Menschen Geld haben, dürfen sie keine massive Umweltzerstörung betreiben“, sagt sie. Für die Besetzer*innen ist der ökologische Kampf um den Wald mehr als nur Umweltschutz: Sie wollen eine „herrschaftsfreie, ökologische Lebensalternative“ aufzeigen und den „Kapitalismus überwinden“. Am Ende könnte der Kampf aber nicht von den Besetzer*innen, sondern von einer Fledermausart beendet werden. Zurzeit wird geklärt, ob der Hambacher Forst als Lebensraum der Bechsteinfledermaus oder des Großen Mausohrs als potentielles Flora-Fauna-Habitat-Gebiet (FFH-Gebiet) dauerhaft geschützt werden kann.

Nach den Räumungen im September und Oktober kehrten die Besetzer*innen zurück in ihren Wald, um ihr Dorf nach Abzug der bis zu 2000 täglich anwesenden Polizist*innen neu aufzubauen. Für sie ist sicher: Der Kampf wird weitergehen, bis zum letzten Baum.

Hintergrund: Die Recherche für diesen Artikel hat am 27. Juni 2018 im Rahmen des Bewerbungsprozesses für eine studienbegleitende Journalistenausbildung bei der Katholischen Journalistenschule stattgefunden. An diesem Tag sind in Einverständnis mit den Bewohner*innen auch die Fotos entstanden. Die Reportage wurde in leicht abgewandelter Form in der UnAuf #249 veröffentlicht. 

Fotos: Gabriel Rinaldi