Ist die Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken nur narzisstisches Gebärden? Oder steckt mehr dahinter? Am Beispiel des Selfies versucht unser Autor zu verstehen, wie die schöne neue Welt des Fotomachens, Teilens und Likens unsere Identität formt.

 1852, als Fotografie noch ein chemisches Verfahren mit dem komplexen Namen Daguerreotypie war, schrieb der amerikanische Autor Herman Melville (Moby Dick) über diese bahnbrechend neue Technologie: „Wie nahe liegt da der Schluss, dass das Porträt nicht mehr, wie in alten Zeiten das Genie verewigt, sondern den Schwachkopf vertäglicht“. Der Autor bringt mit spitzer Feder zur Sprache, was sich 150 Jahre später als nahezu prophetisch erweist.

Schätzungsweise werden täglich mindestens eine Million Selfies aufgenommen. Bei Selfies sind Fotograf und Objekt identisch. Sie werden in der Regel mit herausgestrecktem Arm und mit dem Smartphone geschossen und häufig über die sozialen Medien im Internet verbreitet. Statista zufolge sterben jährlich mehr Menschen durch Selfie-Unfälle als durch Haiattacken. Über die Hälfte der Millenials, der Generation der zwischen 1980 und 2000 Geborenen, hat schon mindestens ein Selfie über soziale Medien geteilt. Bei den 18- bis 24-Jährigen bestehen 30 Prozent aller gemachten Fotos aus eigenhändig geknipsten Selbstaufnahmen. Porträts und Selbstporträts gibt es natürlich schon seit langer Zeit, wobei die Selbstdokumentation durch gemalte Porträts meist den Reichen und Mächtigen vorbehalten war.

Die Erfindung der Fotografie Mitte des 20. Jahrhunderts demokratisierte dann, was zuvor Privileg der bildenden Künste war: das Abbilden der Welt, der Menschheit und des Ichs. Die technischen Möglichkeiten waren freilich begrenzt. Robert Cornelius, ein Chemiker aus Philadelphia, der wohl das erste „Selfie“ schoss, blickt einem aus seinem Selbstporträt fahl und verschwommen entgegen, als stünde er Modell für alte Vampirfilme.

Spätestens seit Erfindung von Digitalfotografie und Smartphone ist das Foto das universale Ausdrucks- und Kommunikationsmittel schlechthin. Es schafft Unabhängigkeit von Sprachkenntnissen und transportiert Informationen auch in die entlegensten Winkel der globalisierten Welt. Die Ausbreitung von jederzeit verfügbaren Fotoapparaten, eingebaut und griffbereit in unseren Smartphones und die Entwicklung der sozialen Netzwerke Facebook, Instagram, Snapchat, Whatsapp und Co. sind die Ursache für die gegenwärtige Überproduktion von Bildern. Motive, die wir als „schön“ identifizieren, Sonnenuntergänge, die Wellen am Strand oder Sehenswürdigkeiten wie den Eiffelturm finden wir zu Abertausenden im Internet. Sie sind austauschbar und verschwinden in der Bilderflut. Das Selfie schlägt dem ein Schnippchen. Es rückt das Einzigartige in den Fokus. Jeder Mensch trägt ein unverkennbares Gesicht auf seinen Schultern, das sie oder ihn unterscheidbar macht.

Unser Abbild erinnert uns und die, die das Foto betrachten, an unsere Existenz, an die schönen Momente des Lebens, an die Jacke, die uns so gut steht, den gemeinsamen Abend mit Freunden, das aufregende Event oder die atemberaubende Reise. Das Selfie sagt: „Ich war dabei“. Die Fotografie kommt in unseren bildgesättigten, aber individualisierten Gesellschaft zu sich selbst, wenn das Besondere zum Mittelpunkt des Bildes wird –  nämlich ich selbst, das Individuum. Erst „die Fotographie macht uns wirklich“, schreibt die Philosophin Susan Sontag.

 Selfie, Selfie in der Hand, wer ist die Schönste im ganzen Land

Selfies werden jedoch nicht nur gemacht, um sie im stillen Kämmerlein anzusehen, sondern auch, um sie mit anderen zu teilen. Dass mache sie deshalb zum Symbol einer egoistischen und hedonistischen Jugend, sagen Kritiker*innen. Und tatsächlich legen psychologische Untersuchungen nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen und Selbstdarstellung im Internet gibt. Andererseits fand die Psychologin Soraya Mehdizadeh von der York University heraus, dass Frauen mit einem geringeren Selbstbewusstsein häufiger Selfies posten, als solche mit einem hohen Selbstbewusstsein. Eine mögliche Erklärung ist, dass das Teilen von Selfies der Selbstbestätigung durch Andere dient. Eine andere Untersuchung aus Großbritannien kam zu dem Ergebnis, dass junge Frauen in England durchschnittlich 48 Minuten pro Tag für ein gelungenes Selfie aufwenden. Warum dieser Aufwand? Selfies in sozialen Medien dienen in der Regel dazu, Anderen gegenüber die positiven Seiten der eigenen einzigartigen Persönlichkeit zu präsentieren. Attraktivität, Hobbies, Ernährung, Weltgewandtheit und so weiter generieren Aufmerksamkeit. Ohne die Kultivierung der eigenen Identität, konstruiert im geteilten Selfie, scheint es schwer, in den sozialen Medien Anerkennung zu erfahren. In der Verknüpfung von Selbstbespiegelung in der Kameralinse und der Darstellung nach außen erinnert das Phänomen Selfie an die christliche Beichte. Die Funktion der

Beichte beschreibt Michel Foucault im Zusammenhang mit seinem Konzept pastoraler Macht. Damit meint er einen Prozess, in dem der Mensch von seinem Anführer einerseits zum eigenverantwortlichen Individuum erklärt, aber andererseits als final von der Führungsperson abhängig beschrieben wird. Das Selbstgespräch mit Gott macht den Menschen zu einem besseren Christen, doch nur der Priester kann Erlösung versprechen. Ähnliches passiert beim Erstellen und Teilen von Selfies: Die Inhalte gestalten und optimieren wir selbst, doch das letztgültige Urteil fällt die Community.

Selfie – Das digitale Ich

Die Aneinanderreihung von Fotos aus unserem Leben, die unsere Erinnerungen stützen und Momenten persönlichen Wert verleihen, produziert einen Teil unserer Identität und schreibt sie fort. Teile ich mein Foto in den sozialen Medien, kann es von anderen bewertet und wahrgenommen werden. Das Selfie ist Widerschein meiner (digitalen) Identität: Ist es online, stehen auch mein Wert und meine Sichtbarkeit zur Disposition, das Like erteilt die Absolution.

So ist es nicht überraschend, dass das häufige Betrachten von Selfies unzufrieden macht, wie einige Studien nahelegen. Insbesondere Frauen wird oft ein negatives Körpergefühl vermittelt. In Selfies reproduziert sich schließlich das, was als „normal“ und „wertvoll“ zu gelten hat. Attraktive Körper, Reisen oder Freizeitgestaltungen werden prämiert, Abweichungen hingegen fallen aus dem Raster. Ein Blick auf Instagram verrät: So unterschiedlich die Gesichter sind, so ähnlich präsentieren sich die Menschen selbst. Durch den abgebildeten Menschen ist jedes Selfie einzigartig und doch sind es nicht die Urheber*innen, die entscheiden, welche Einzigartigkeit als wertvoll gilt. Wer anerkannt werden will, muss sich bestimmten Spielregeln fügen. Trotzdem bietet das Selfie eine Chance zur Selbstermächtigung. Selfies, die der Norm zuwiderlaufen, können die Menschen sichtbar machen, die bisher unsichtbar blieben und ein anderes Bewusstsein für Individualität schaffen.