Nationalismus scheint eines der konfliktreichsten Themen unserer Zeit. Immer öfter fordern Bürger*innen in Europa mehr Autonomie für ihre Region. Eine Gruppe von Geschichtsstudierenden der HU sind im Juni 2018 auf einer Exkursion nach Spanien dem katalonischen Streben nach Unabhängigkeit auf die Spur gegangen. Gemeinsam mit ihrer Professorin Birgit Aschmann haben sie in Madrid und Barcelona nachgefragt: Was sind die Ursachen und Hintergründe dieses Konfliktes? Die UnAuf hat die Masterstudierenden Michael Griff (24), Tony Glasow (24) und Silvia Soyter (28) in einem Café nahe der Uni getroffen und nach ihren Eindrücken gefragt:

UnAuf: Weshalb habt ihr euch entschieden an der Exkursion nach Spanien teilzunehmen?

Tony: Meine Bachelorarbeit hab ich über die Rolle der Frau in der Franco-Diktatur geschrieben. Und ich bin einfach an Spanien interessiert, sowie am Thema Nationalismus.

Michael: Ich hatte im vergangenen Semester einen Kurs zu Nationen und Nationalismus. Das Thema hat mich daher mehr aus dem Forschungsaspekt heraus interessiert. Ich wollte wirklich mal hinterfragen, was hinter der Idee des katalanischen Nationalismus steckt. Es war super spannend, diese Nationalismustheorien, die wir in der Übung vorher besprochen hatten, dort auch lebendig zu sehen.

Silvia: Ich habe im Bachelor neben Geschichte auch Spanisch studiert und über das Erasmusprogramm bereits 2014 für ein Jahr in Salamanca gelebt. Tatsächlich hatte ich auch schon zu Hause öfter darüber diskutiert. Aber niemand hatte so richtig den Überblick, warum das da in Spanien eigentlich gerade alles so stattfindet, wie es stattfindet. Dem wollte ich also mal auf den Grund gehen.

UnAuf: Ihr wart in Barcelona und in und um Madrid: Welche Unterschiede sind euch aufgefallen?

Tony: Die katalanische Flagge in Barcelona ist mir aufgefallen. Sämtliche Symbole des katalanischen Nationalismus sind in Barcelona schon sehr gut sichtbar und im Vergleich dazu waren die spanischen Flaggen in Madrid eher spärlich vertreten. Es gab da so einen Platz in Madrid, wo eine der Dozentinnen meinte, hier wären vor gut einem Jahr noch keine Flaggen gewesen. Jetzt reiht sich dort eine Flagge an die nächste.

Silvia: Plaza de Cibeles heißt der Platz. Und das ist mir auch aufgefallen, das kannte ich auch nicht so. Die Flaggen in Barcelona sind hingegen schon viel länger vertreten. In Madrid beschränkte sich das vorher eher auf offizielle Gebäude, weniger auf bewusste Nationalsymbolik. Wobei man dazu sagen muss, dass es zu dem Zeitpunkt kurz vor der Fußball-WM war und zumindest ein Teil der Flaggen Fußballfans zugordnet werden könnte. Aber wenn ich so zurückblicke, ist es doch deutlich mehr geworden.

Auch viele junge Katalanen wünschen sich die Unabhängigkeit der Region

UnAuf: Ihr habt im Laufe der Exkursion mit verschiedenen Menschen über Nationalismus sprechen können. Wer sind die katalanischen Separatisten? Gibt es Generationsunterschiede?

Michael: Das ist genau das, womit sich vor allem die Katalanen so ein bisschen brüsten. Sie sagen, dass angeblich alle Generationen hinter ihrer Bewegung stehen. Wir waren an einem Tag bei Òmnium Cultural, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die extrem Pro-Katalanisch ist. Unser Ansprechpartner dort war etwas älter, aber man sah sehr viele junge Leute arbeiten, die  höchstens  Anfang 30 waren. Das Büro hätte auch ein typischer Berliner Co-Working-Space hier um die Ecke sein können. Sie geben sich sehr jung, modern und stehen offen hinter diesem katalanischen Nationalismus. Sie versuchen damit eine progressive Art darzustellen.

Silvia: Damit setzten sie sich bewusst in Kontrast zu den Spaniern aus Madrid, die als alt und ehemalige Faschisten gelten.

Michael: Genau, ganz im Gegensatz zu dem Bild, das man oft hat. Nationalisten sind in der generellen Wahrnehmung gerne sehr verrostete Alte, die an irgendwas Vergangenes glauben. Und dem versucht die katalanische Unabhängigkeitsbewegung bewusst entgegenzusteuern.

Tony: Dabei ist es natürlich nicht so, dass alle Zentralisten sind und graue Haare haben. Allein, wenn wir uns an dieses eine Gespräch mit Adrian Kuhn erinnern, einem Professor, der gerade an einer Privatuni in Madrid doziert hat. Der war ja nun alles andere als mega-alt und konservativ oder faschistisch.

UnAuf: Was ist dran an der jahrhundertelangen Tradition der katalanischen Autonomie?

Silvia: Es stimmt, das wird häufig erwähnt. Aber die Erzählung dieser Tradition stimmt nicht.

Michael: Ich habe mich in Gesprächen oft gefrag: Wo fängt denn nun die Geschichte der katalanischen Unabhängigkeit an? Im Mittelalter? 1714? Später? Die meisten fangen mit 1714 an, wo es zum Verlust der bisherigen Unabhängigkeit im Zusammenhang mit dem Spanischen Erbfolgekrieg kam, einem eigentlich spanisch-französischen Konflikt.

Silvia: Aber im Prinzip sei Katalonien das gesamte Mittelalter hindurch unabhängig gewesen. So hat uns sogar Ricard Vinyes Ribas erzählt. Er ist Professor für Zeitgeschichte und arbeitet für Memòria Barcelona, einem NGO-Projekt zur Geschichte Barcelonas. Das mit der Unabhängigkeit im Mittelalter ist aber einfach vollkommener Schwachsinn. So etwas würde ich vielleicht noch von jemandem erwarten, der keine Ahnung von Geschichte hat, sich nicht dafür interessiert und der das eventuell einfach aus den Erzählungen seines Opas weitergetragen hat, aber nicht von einem studierten Historiker, der sich konkret mit der Geschichte seiner Stadt beschäftigt.

Tony: Aber dieses Narrativ hat sich in jedem Gespräch durchgezogen, sei es der Archivar von Montserrat, der Stadthistoriker von Barcelona oder der Mensch von Omnium Cultural. Sie haben es als die pure Wahrheit verkauft.

Wie viel Einfluss hat die Diktatur auf den Konflikt?

UnAuf: Ihr seid auch an Francos Grab vorbeigekommen: Welche Rolle spielt der Diktator heute noch in Spanien?

Tony: Spanien ist da in gewisser Weise immer noch zweigeteilt. Deswegen ist das Valle de los Caídos in Madrid, also das sogenannte Tal der Gefallenen, wo unter anderem auch Franco begraben liegt, auch so furchtbar, da es dort in dieser Gedenkstätte gar keine Aufarbeitung gibt.

Silvia: Ich würde es keinesfalls als Gedenkstätte beschreiben. Es gibt dort eine Basilika, Mönche und Francos Grab. Aber es ist keine Gedenkstätte wie wir sie hier kennen, etwa wie die Mauergedenkstätte. Es gibt keine Gedenkstättenarbeit, keine Pädagogik dahinter. Da kommen lediglich Menschen hin, um Blumen niederzulegen. Wir haben es hier und da auch mal angesprochen. Doch keiner hat so wirklich über Franco sprechen wollen. Im Außenministerium ist es nochmal kurz gefallen, soweit ich mich erinnere. Da hat derjenige, mit dem wir da gesprochen haben, aber schließlich auch abgewunken. Das spiele alles keine Rolle mehr, was aber offensichtlich einfach nicht richtig ist. Einer von der Partido Popular (PP), der großen christlich-konservativen Partei im spanischen Parlament, meinte zudem es sei doch auch einfach mal genug Zeit vergangen. Da müsse man doch gar nicht mehr drüber reden.

UnAuf: Hat die Zeit unter Franco den Konflikt möglicherweise verschärft? Woran erkennt man die Fronten der Konfliktparteien?

Michael: Die Franco-Diktatur (Anm. d. Red.: 1939-1977) ist ein Argument, welches in dieser Diskussion gerne genutzt wird. Es wird kombiniert mit der Geschichte um 1714. Dann heißt es außerdem, im 19. Jahrhundert wären die Katalanen unterdrückt gewesen. Aber die wirtschaftsstärkste Region in ganz Spanien, hätten alles finanziert, was auch so nicht stimmt. In Bezug auf Franco wird oft gesagt, Katalonien wäre die anti-franquistische Hochburg Nummer eins gewesen und während der Diktatur gezielt durch das Regime unterdrückt worden. Doch nach und nach lockerte sich das Ganze, in den 1940er war das alles noch etwas ganz anderes als beispielsweise schon in den 1960ern. Man kann nicht sagen, dass sich Katalonien aus der Herrschaft Francos vollkommen rausgehalten hat und es gab auch keine durchgehende Unterdrückungspolitik, die gezielt Katalanen treffen sollte. Das wissen auch alle, wird aber lieber unter den Tisch gekehrt. Aber ja, das Narrativ ist eigentlich immer, die Franco-Zeit habe sie so unterdrückt, dass sie jetzt endgültig die Unabhängigkeit einfordern.

Tony: Es ist völliger Quatsch, dass Katalonien sagt, wir waren während des Bürgerkriegs die letzte Bastion der Republikaner (Anm. d. Red.: Die Zweite Spanische Republik zerbrach Ende der 1930er Jahre). Die Katalanen haben, wie sämtliche andere Spanier unter Franco gelitten.

Michael: Außerdem wird der spanische Republikanismus für irgendwas in Geiselhaft genommen, für das er gar nicht steht. Der spanische Republikanismus ist eine gesamtspanische Vision. Es war und ist ein Modell, das dezidiert eigentlich nicht die Autonomie befürwortet, sondern regionenübergreifend denkt. Historische Persönlichkeiten, so wie beispielsweise Lluís Companys, ein katalanischer Politiker in den 1930ern, werden für etwas instrumentalisiert, wofür sie gar nicht stehen. Companys war gegen Franco und er kam aus Katalonien. Aber das macht ihn noch nicht zum katalanischen Unabhängigkeitskämpfer.

Silvia: Das ist eigentlich das Schlimme an dem Ganzen, dieses gefährliche Halbwissen. Irgendwelche Halbwahrheiten werden zu Geschichten ausgebaut. Historische Figuren werden einfach benutzt und in die Geschichte eingeflochten, damit man sie jetzt großmachen kann. Dann kann man sagen, die haben damals schon das verfochten, was wir heute auch wollen, das sind unsere Helden.

Tony: Das ist einfach falsch, aber etwas, das nun einmal bei Mythen oder bei nationalen Narrativen schnell passiert. Irgendwas wird aus dem Kontext gehoben und missbraucht.

Silvia: Und bei Personen hört es nicht auf. Es gibt da dieses „Schnitter“-Lied, das als Nationalhymne Kataloniens aufgeblasen wird und bei jeder Veranstaltung mit Begeisterung und sehr emotional gesungen wird. Die spanische Nationalhymne ohne Text hat dagegen keine Chance. Dann gibt es noch den katalanischen Nationalfeiertag, der vor allem in Barcelona begangen wird. Da sind die Straßen dann richtig voll. Es werden Blumen niedergelegt an den Statuen von den ehemaligen Helden. Und nicht zu vergessen ist auch der FC Barcelona, der eine riesige Rolle spielt. Bei den Spielen im Stadion Camp Nou kommt bei jeder Partie zur 17. Minute und 14. Sekunde der Ruf aller zur Unabhängigkeit. Zudem kommt zu den ganzen Mythen eine starke Emotionalität hinzu. Es geht alles Hand in Hand. Es ist eine junge, moderne Bewegung, die die Menschen emotional packt. Emotion als treibende Kraft ist ein Aspekt, den ich einfach wirklich nicht begreifen oder verstehen kann.

 

Aufbruchsstimmung nach Regierungswechsel?

UnAuf: Seit Juni 2018 hat Spanien nun eine neue Regierung, während der katalanische Separatistenführer Carles Puigedemont nun wieder in Belgien verweilt. Wie schätzt ihr das ein?

Tony: Als wir im Juni da waren, war es noch alles nicht ganz sortiert mit der neuen Regierung. Dennoch wurde gemunkelt, der neue spanische Regierungschef Pedro Sanchez könnte etwas für Katalonien verändern. Er hat hier und da ein paar Versprechungen gemacht – und dann wieder nicht – und dann wieder doch. Dabei hat er sich vor allem an die Basken gewendet, die ja auch in einem ähnlichen Konflikt mit Madrid stehen, genauso wie die Katalanen. Allerdings lassen sich die Katalanen durch einen Regierungswechsel sicher nicht so schnell vom Kurs abbringen. Denn sie sagen, wir setzen uns gern mit Madrid auseinander, aber wir müssen auch über ein Referendum reden, während Madrid gleichzeitig sagt, wir reden gerne mit den Katalanen, aber es wird kein Referendum geben. So wird das natürlich nichts.

Silvia: Das Grundproblem bleibt die Verfassung. Für ein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens müsste prinzipiell die Verfassung verändert werden, sonst kann kein gültiges Referendum durchgeführt werden. Mit einer Verfassungsänderung wäre es wenigstens theoretisch möglich.

Michael: Aber selbst wenn, würde die andere Seite das Referendum weiterhin nicht wollen. Durch eine Verfassungsänderung ändert sich der grundsätzliche Streit, diese Blockade in der Diskussion, ja nicht.

Silvia: Sagen wir mal, es würde dann wirklich ein Referendum geben und dann würde aber herauskommen, dass 70 Prozent der Katalanen keine Unabhängigkeit wollen, dann würde es vielleicht auch ein Ende dieser Diskussion geben. Aber so, weiß keiner, was die Mehrheit der Katalanen will, da kein rechtsgültiges Referendum möglich ist. Und es ist nicht möglich, weil Madrid es nicht zulässt, weil es die Verfassung nicht zulässt.

Tony: Ich glaube, bevor da die Verfassung geändert wird, hat die neue Regierung noch allerhand anderes zu tun.

Michael: Es hatte vor allem keiner, den wir getroffen haben, eine konstruktive Idee dazu was nach einem erfolgreichen Referendum passieren würde. Es ist nicht so, dass die andere Seite mit einer Abstimmung verschwindet. Wenn ein Referendum gegen die Unabhängigkeit ausfallen würde, gäbe es immer noch einen Großteil der katalanischen Bevölkerung, die für die Unabhängigkeit wären und in einem System leben, welches ihren Vorstellungen vollkommen widerspricht. Andersherum genauso.

Silvia: So oder so verliert irgendjemand. Und wenn es zu einer Unabhängigkeit kommt, was ist dann mit dem Baskenland? Was ist mit den anderen autonomen Regionen? Auch jetzt ist es schon ein Problem, dadurch, dass die unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Rechte haben. Allein, dadurch, dass die spanische Regierung immer mehr Regionen als historisch gegeben definiert hat, haben sich die Gräben nur immer weiter vertieft. Natürlich, durch die Westgoten, kann man für Katalonien sicherlich irgendwo eine Entstehungsgeschichte herleiten. Aber sollte das in einem heutigen Staat noch eine so zentrale Rolle spielen?

UnAuf: Was glaubt ihr, wie geht es weiter? Wird sich der Konflikt irgendwann lösen?

Silvia: Viele die wir in Spanien getroffen haben, haben so aus einer Mischung aus Humor und Resignation gemeint, man könne das Problem nicht lösen, man müsse damit leben.

Tony: Es hilft am langen Ende wahrscheinlich wirklich nur die Verfassung zu ändern, ganz abgesehen, ob es dann ein Referendum geben würde, ob für das Baskenland, die Katalanen oder sonst wen. Dadurch, dass den Regionen immer mal hier und da Zugeständnisse gemacht werden, weil man gerade an ihren Wählerstimmten interessiert ist, schaukelt sich alles nur weiter hoch. Das ist dann wieder dieses Prinzip des „Café para todos“, wie sie in Spanien sagen. Wenn die eine Region Sonderrechte bekommt, meldet sich bald die nächste, sie hätte auch gerne mehr Zugeständnisse. Jeder will den gleichen Kaffee serviert bekommen. Und das geht dann immer weiter reihum und man kommt nie auf einen gemeinsamen Nenner. Der reinste Wahnsinn, sollte man meinen.

Michael: Aber selbst, wenn man alles zurückfahren würde und es für alle Regionen wirklich die gleichen Rechte gäbe, würde dieser fast schon virulente Nationalismus nicht einfach verschwinden. Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist nicht nur ein verfassungspolitischer Konflikt, wenn wir den Punkt mit den Emotionen bedenken, den wir angesprochen haben.

Silvia: Die Frage bleibt, ob die unterschiedlichen Nationalitäten so krass ausgeprägt sind oder, sodass man theoretisch – das war auch mal auf dem Tisch – so eine Art lockeres Staatenbündnis aus den spanischen Regionen machen müsste.

Michael: Interessanterweise, war die Meinung der Politikwissenschaftler, die wir in Madrid an der Universität getroffen haben, es gäbe gar keinen wirklichen spanischen Nationalismus. Das fand ich ein wenig absurd und hat in der Gruppe dann zu einer Diskussion geführt, was dann den spanischen Nationalstaat ausmacht.

Silvia: Ein historisches Problem. Denn unter Fr

anco gab es diesen spanischen Nationalismus sehr stark. Anschließend ist das ein bisschen so gelaufen, wie wir das aus Deutschland kennen. Man hat sehr bewusst gesagt hat, man müsse davon jetzt wegkommen und von diesem strikten Nationalismus Abstand nehmen.

Tony: Wobei das im Fall Deutschland schon eher von außen kam. In Spanien war da kein Druck von außen. Das finde ich eher schwierig zu vergleichen.

UnAuf: Oder explodiert die Lage in Spanien irgendwann doch?

Silvia: Das habe ich mich auch oft gefragt. Denn die Katalanen behaupten ja eigentlich, sie hätten so einen super freundlichen, fröhlichen Nationalismus und nennen es die „Revolution des Lächelns“. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht irgendwann mal umschlägt und es zur großen, auch gewaltvollen Revolution kommt.

Michael: Ich kann mir das eher weniger vorstellen. Man sollte mit einbeziehen, dass die aktuelle Popularität dieses Nationalismus wahrscheinlich auch mit der Wirtschaftskrise der letzten Jahre zusammenhängt. Das meinte unter anderem ein Verfassungsjurist von der Universität in Barcelona. Die Leute haben in der Krise überall nach Antworten gesucht. Viele junge Menschen in Madrid haben ab 2011 eine Protestbewegung gestartet, die „Movimiento 15-M, also die Bewegung des 15. Mai, die später unter anderem in der neuen Partei Podemos aufging. Aber so wirklich etwas verändert haben sie auch nicht. In Barcelona gab es ähnliche Bewegungen, die sich aber schnell wieder auf diesen alten Konflikt um die Unabhängigkeit fokussiert haben.

Silvia: Ja, das stimmt. Aber es ist eigentlich schon ab 2010 wieder hochgekocht mit dem Streit über das neue Autonomiestatut. Das Statut definiert die Freiheiten, die Katalonien innerhalb des spanischen Staates genießt. Es gab eine große, langjährige gerichtliche Auseinandersetzung und am Ende wurde entschieden, 14 Artikel des Statuts seien teilweise oder ganz verfassungswidrig. Das hat zu enormen Protesten in den katalanischen Städten geführt. Das Problem ist aber nie ganz gelöst worden.

Studieren mit Franco

UnAuf: Letzte Frage: Was war rückblickend euer einprägsamstes Erlebnis auf der Exkursion?

Tony: Für mich war es definitiv das Treffen mit Santiago Cantera, dem Prior im Valle de los Caídos, also dem Vorsteher des dortigen Klosters. Er wird, wie er uns selbst stolz erzählte, von der spanischen Presse gerne als „Bestie“ bezeichnet wird und ist eigentlich auch studierter Mittelalterhistoriker ist. Alles was er sagte, präsentierte er mit so einem süffisanten Lächeln. Er tritt öffentlich dafür ein, dass alles im Valle beziehungsweise in dieser Klosteranlage so bleibt, wie es ist. Die Totenruhe solle nicht gestört werden. Die Hinterbliebenen der republikanischen Seite haben gesagt, sie wollen, dass die Knochen ihrer Angehörigen aus diesem Massengrab dort ausgegraben werden. Es ist jedoch das Tal aller Gefallenen. Und so befürchten die Hinterbliebenen der franquistischen Seite, dass die Knochen ihrer Angehörigen dabei verletzt werden könnten. Mittlerweile gibt es aber Nachforschungen darüber, was da machbar wäre.

Michael: Das war echt beeindruckend. Aber ich habe jetzt auch nochmal über den frisch abgewählten Politiker des PP in Madrid nachgedacht. Alles was er so von sich gab, klang wie eins zu eins abgedruckt im Parteibuch, sehr glatt insgesamt. Dabei fielen dennoch ein paar interessante Dinge. So heißt es nämlich aus Madrid, vor allem aus den Reihen der PP, in Richtung Katalonien, die seien alle viel zu emotional und rationale Argumente würden sie einfach überhören. Man könnte überhaupt nicht mit ihnen reden, egal was man versuche. Da hat man nochmal deutlich gemerkt, wie klar die Fronten da getrennt sind. Nationalismus hat er generell in allen Formen abgelehnt. Für ihn sind Spanier schlicht alle, die in Spanien leben.

Mich hat insgesamt die permanente Geschichtsverdrehung durch Historiker nachhaltig erschüttert. Das hat mich ernsthaft gestört, gerade wie man Quellen so bewusst missinterpretieren und verdrehen kann und das – in teils öffentlichen Positionen – dann auch noch so weitergibt. Zudem fand ich die riesigen Steinplaketten über den Eingängen der Universität in Madrid sehr irritierend, die ohne jegliche Kommentierung an die Eröffnung durch Franco erinnerten, auch wenn Spanien bei weitem nicht das einzige Land ist, das solche Dinge nicht aufarbeitet.