Ein Tag bei der Berliner Obdachlosenhilfe

Anstatt wie üblich mit gesenkten Augen vorbeizueilen, hat unsere Autorin einen Tag lang zugehört und mit angepackt. Die Chronik eines Tages bei der Berliner Obdachlosenhilfe

Die U8 ist rappelvoll – wie immer. Es ist stickig – wie immer. Und an jeder zweiten Haltestelle steigen verwahrlost aussehende Menschen zu – wie immer. Die kurze Störung tue ihnen leid, aber mittlerweile seien sie schon seit zwei, drei oder fünf Jahren obdachlos, und nun ja, wenn jemand vielleicht eine kleine Spende übrighätte, zehn Cent reichen auch schon, dann wäre das sehr hilfreich und ansonsten wünschen sie allen noch einen schönen Tag. Die Blicke der Fahrgäste gehen schnell Richtung Boden: Interessant, dieses graue Linoleum. Man spürt die Betroffenheit und das Dilemma: Ignoranz ist einfach, Helfen ist schwer.

Nächster Halt: Pankstraße. Drei Minuten Fußweg von dort sitzt die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. (BOH).  Seit der Gründung 2013 verteilen freiwillige Helfer*innen dreimal pro Woche Essen, Kleidung und Hygieneartikel an Bedürftige. Auf den Touren werden Leopoldplatz, Alexanderplatz und Kottbusser Tor angefahren. Das Konzept ist unkompliziert: Alle können, niemand muss. Das Motto ist schlicht: Ignoranz ist scheiße und Helfen ist einfach.  

13:30 Uhr

In den Räumlichkeiten der Obdachlosenhilfe ist es heiß, die Begrüßung ist herzlich und warm. Nach kurzer Einweisung auf Deutsch und Englisch kann jede*r mitmachen, meistens gibt es für alle was zu tun. Was steht heute auf dem Speiseplan? Das was halt da ist: Veggiezeug, Wurstzeug, Reis, Nudeln. Die meisten Zutaten kommen von der Berliner Tafel, alles Haltbare wird von Spendengeldern dazu gekauft. Hinten, in der engen Küche, starten die Kochvorbereitungen – mit circa 200 Gästen wird auf der Tour gerechnet. Vorne finden sich ein paar Helfer*innen ein, um Käse- und Wurstbrötchen zu schmieren. Einige sind zum ersten Mal hier, andere kommen regelmäßig. Für alle gilt: Kommen und Gehen, wie man will. „Keine ausgefallene Tour seit 3/9/2016“, steht an der Eingangstür. Unverbindlich Helfen – das Konzept geht auf. Trotzdem gibt es einen Kreis an festen Helfer*innen, mit abgesprochenem Schichtplan. Alle die möchten, können sich außerdem in verschiedenen AGs engagieren und sich regelmäßigen auf Plenarsitzungen austauschen. Die Türen stehen offen: Für neue Leute und für neue Ideen.

16:00 Uhr

Nach den Brötchen werden Salat, Obst und Kaffee zubereitet. In der Küche ist es heiß und fettig, das Kochen geht in die Endphase. Die Blutwurst, die auch bei der Tafel keiner will, muss noch geschickt verarbeitet werden. Kein Problem, unter dem ganzen Gemüse fällt sie gar nicht richtig auf. Nebenbei werden die Kleiderspenden sortiert. Dieses Mal ist die Auswahl spärlich – Alex und Leo müssen wohl leer ausgehen.

17.45 Uhr

Das Essen ist fertig, der weiße Kleintransporter der Obdachlosenhilfe ist beladen. Ein Auto-Team und ein U-Bahn-Team machen sich auf den Weg zur ersten Station. Auf einer Tischtennisplatte am Leopoldplatz wird das Essen aufgebaut, während sich die Gäste mehr oder weniger geduldig anstellen. Nacheinander gibt es Kuchenstückchen, Brötchen, Hauptspeise, Obstsalat und zum Schluss Kaffee oder Tee. Wer sich selber was nehmen will, wird freundlich und direkt zurückgewiesen. Zwischendurch kurz Pause, um selber was zu essen. Einer der Gäste gesellt sich dazu und erzählt von seinem verletzten Knöchel, der wäre ja schon zweimal gebrochen gewesen, deshalb sei er jetzt besonders anfällig. Irgendwann kommt ein Hund angelaufen – der gehöre zu Petra und sei ein ganz lieber, ob er wohl etwas Hundefutter bekommen könnte? Na klar! Fast alle Gäste nehmen Nachschlag. Ein Gast bedankt sich, in der Unterkunft sei das Essen ja meistens nur so mäßig, aber auf den Mittwoch und den Samstag freue sie sich immer. Da gebe es was Richtiges.

19:00 Uhr

Am Alex warten die meisten Gäste schon auf ihr Abendessen, schon bevor der weiße BOH-Transporter vorfährt. Nachschlag erst dann, wenn alle was hatten. Auf der Bank sitzen Anton und Lisa, beide essen Reis mit Gemüse. Diesmal wollte Lisa fast nicht kommen, weil es ja so heiß ist, aber zum Glück hätten sie sich doch aufgerafft. Im Alter sei das ja alles immer anstrengender. Lisa äußert sich zur Politik und redet über Obdachlosigkeit. Toll, dass die jungen Leute sich so engagieren! Anton sähe das genauso. Selber sagt er nichts, aber das täte er ja eh nie. Nachdem sie aufgegessen haben, verabschieden sie sich von allen. Bis nächste Woche.

20:50 Uhr

Letze Station: Kotti. Die Straßen haben sich etwas geleert, die Zahl an Gästen hat sich in etwa halbiert. Nachdem alle gegessen haben, wird die Kleiderausgabe aufgebaut. Die Auswahl ist gering und die Nachfrage groß, besonders um die Männer-T-Shirts gibt es etwas Gerangel. Einer nach dem anderen, bitte! Zum offenen Konflikt kommt es nicht, wie meistens läuft alles ziemlich friedlich ab. In den letzten vier Jahren musste vielleicht drei-, viermal die Polizei eingeschaltet werden, in der Regel klären sich Konflikte, die unter Gästen angefangen werden, auch wieder unter den Gästen.

22:30 Uhr

Die Tour endet in der BOH-Zentrale, es ist Zeit für die Aufräumarbeiten. Hier ist es immer noch heiß, aber das Bier ist kalt. Bald wird der Verein umziehen, wie es schon lange der Plan ist. Mit mehr Platz können die Räumlichkeiten der BOH selbst bald hoffentlich auch zur Anlaufstation für die Gäste werden, geplant sind unter anderem ein Kiez-Café, Duschmöglichkeiten und Notübernachtungsplätze. In ferner Zukunft wird es vielleicht sogar Wohnraumangebote geben. Viele feste Pläne, viele vage Ideen, aber vor allem: genug Platz für Hilfe und wenig Zeit für Ignoranz.