Die UnAuf ist zu Gast in Kiew.  Vor vier Jahren starben junge Ukrainer*innen auf dem Maidan im Kampf gegen die Korruption und für die Freiheit. Davon ist heute in Kiew fast nichts mehr zu sehen. Nur die vielen Soldaten im Stadtbild erinnern daran, dass im Osten  immer noch Krieg herrscht. Doch hinter den Kulissen arbeiten unzählige junge Aktivist*innen daran, die Revolution in den Köpfen weiterzutreiben. Fünf UnAuf-Redakteure begeben sich fünf Tage lang auf Spurensuche

Tag 3

Es braucht ein paar Tage, um zu bemerken, dass man Westeuropa verlassen hat. Hier gibt es alles, was es auch dort gibt: Pflastersteinstraßen, malerische Straßenzüge, Falafel, Kaffee und Kuchen, Mercedes-Benz, Hipster, und so weiter. Was man so gut wie gar nicht sieht: Devianz, Normabweichungen. Hunderttausende Menschen, und darunter kaum mal ein schwarzer Haarschopf. Fünf Deutsche stechen hier zuweilen ebenfalls raus und werden in der U-Bahn, zumindest in den Randbezirken, auch gerne mal heimlich fotografiert.

Dann die Sprachbarriere: Die Situationen häufen sich, in denen Englisch nicht weiterführt, und in denen sogar Gestikulieren nichts bringt. Deswegen habe ich gestern bei einer überaus reizenden älteren Dame statt einem Apfel eine ganze Tüte voller Äpfel gekauft. Überhaupt sind die Omis, die mit ihren Kopftüchern Lebensmittel oder Socken an den Fußgängerunterführungen verkaufen, Sinnbild für die Ungleichzeitigkeiten in einem Land, in dem nach dem Hummus-Dinner zum Boilerroom gehen kann, während wenige hundert Kilometer weiter Subsistenzwirtschaft betrieben wird.

Mein Apfel-Fauxpas war im Übrigen hinterher keiner, die Äpfel kommen gut in der Gruppe an und sind in der Ukraine grundsätzlich ohnehin sehr, sehr lecker. Wobei ich auf anderen Feldern des Touristing 101 trotzdem auf ganzer Linie versagt habe, zum Beispiel, als ich auf dem Maidan unter der Annahme, ich hätte es mit einer vereinzelten verrückten Tauben-Lady zu tun, einwilligte, mir eine ihrer Tauben auf den Arm setzen zu lassen. Wenige Minuten später war ich umringt von einer ganzen Tauben-Mafia, die mir ihrerseits ihre Tauben entgegenstreckten und dafür Trinkgeld haben wollte. Leider sind Tauben extrem widerliche Tiere, und zu meinem Bedauern bin ich etwas lauter geworden, als ich wollte.

Vor dem ganzen Tauben-Dilemma hatte ich das Glück, den ganzen Tag mit Aktivist*innen der Social Democratic Platform (SDP) zu verbringen. Die SDP ist eine junge NGO, die im ganzen Land sozialdemokratische Bildungsarbeit leistet. Obwohl Vladyslav Faraponov  (19, Jura) und Marina Tereshchuk (30, Politikwissenschaftlerin) im Verhältnis zu ihren Altersgenossen, von denen sich aktuellen Studien zufolge nur ungefähr 10 Prozent für Politik erwärmen können, unfassbare political animals sind, können nicht mal sie sagen, welche Partei sie in den anstehenden Wahlen 2019 wählen wollen.

Das Problem: Unter insgesamt fast 300 ukrainischen Parteien gebe es kaum eine, die wirklich progressiv oder nicht von wohlhabenden Hintermännern (und Frauen) gesteuert sei. Diese Analyse teilen im Prinzip alle unsere Gesprächspartner. Außerdem, und so schließt sich der Teufelskreis, stimmen hier alle darin überein, dass es in der Ukraine einen riesigen Mangel an politischer Bildung gebe. Kaum jemand ist in der Lage, konkrete Anliegen – die selbstverständlich von allen formuliert werden – auf einen politischen Spektrum zwischen rechts und links zu verorten. Politische Label und deutliche Positionierungen, etwa als Konservative, Liberale oder Sozialdemokraten, werden mit großer Skepsis betrachtet. Desorientierung ist die Folge. Dazu kommen die grassierende Korruption und die wirtschaftliche Rezession, die seit 2014 das Land gefangen hält. Wirklich einigen können die Ukrainer sich, sagen die einen, nur auf einen abstrahierten Nationalismus mit Traditionspflege und Wertekonservatismus. Andere argumentieren, hier gebe es Mehrheiten für linke Politik, vor allem im Gesundheitssystem und der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Wirtschaftskrise, Korruption und politische Orientierungslosigkeit sind sicher kein fruchtbarer Boden, um eine stabile deliberative Demokratie zu bauen. Genau deshalb arbeiten Menschen wie Vladyslav oder Marina in der politischen Bildung, organisieren Podiumsdiskussionen und versuchen, Menschen hinter politischen Ideen zu versammeln. Eine Partei soll aus ihrer NGO aus den genannten Gründen vorerst nicht werden, sagen auch sie: Warum Gesetze verabschieden, die nicht durchgesetzt werden, wenn noch so viel an der Basis zu tun ist und getan werden kann?

Zurück bei den 90 Prozent der jüngeren Ukrainer, die sich nicht so sehr für Politik begeistern können. Im River Port, einem Club am industrialisierten Ufer der Dnepr, hat man für solche Überlegungen eher Achselzucken übrig. Auch deshalb fühlt man sich irgendwie nach Berlin zurückversetzt. Auf Holzplanken zu Techno tanzen, der einzige große Unterschied ist: Hier trägt man nachts noch ungeniert Sonnenbrille. Bevor wir uns arbeitsunfähig trinken (was härter klingt, als es war) interviewen wir noch spontan den russischen Hochzeitsmoderator Roman, der russische Hochzeiten in der Ukraine und in der Exilgemeinschaft in Berlin moderiert.