Die UnAuf ist zu Gast in Kiew.  Vor vier Jahren starben junge Ukrainer*innen auf dem Maidan im Kampf gegen die Korruption und für die Freiheit. Davon ist heute in Kiew fast nichts mehr zu sehen. Nur die vielen Soldaten im Stadtbild erinnern daran, dass im Osten  immer noch Krieg herrscht. Doch hinter den Kulissen arbeiten unzählige junge Aktivist*innen daran, die Revolution in den Köpfen weiterzutreiben. Fünf UnAuf-Redakteure begeben sich fünf Tage lang auf Spurensuche

Tag 2

9:00 Uhr, der Wecker klingelt. Trotz zwei Haustüren und Isomatten-Isolierung der Fußböden veranlassen die Temperaturen in der Wohnung eher zum Liegenbleiben. Für Bequemlichkeiten bleibt aber keine Zeit, der Tag wartet nicht auf uns. Immerhin: Die Sonne scheint und der Kaffee im Aroma Kava ist billig. Hier fällt der offizielle Startschuss und wir strömen los, in verschiedene Richtungen, zu verschiedenen Terminen und entdecken die verschiedenen Gesichter Kiews.

Politik sei für Leute mit Geld, nicht für Leute mit Ideen, erzählt uns Tetiana Shevchuk, als wir sie im Antikorruptionscenter treffen. Tetiana wirkt nüchtern, schaut realistisch auf die Gegenwart, aber hoffnungsvoll auf die Zukunft. Die Leute mit Ideen scheinen nicht ausgestorben zu sein. Die NGO SocialBoost will junge Startup-Gründer*innen mit der Regierung vernetzen. Potenzial ist da, es muss nur bleiben wollen. Seit den Neunzigern hat die Ukraine ungefähr 10 Millionen Einwohner*innen verloren, da ist jede Initiative willkommen.

Etwas anders sieht es die Soziologin Oksana Dutchak, die wir über die Rosa-Luxemburg-Stiftung treffen. Sie ist auch unzufrieden, aber abgebrühter. Die Benachteiligung der Frauen spüre man hier in der Ukraine auch auf materieller Ebene. Wählen gehen würde sie nicht mehr, die Zukunft sieht sie pessimistisch.

Auf der Suche nach einem funktionierenden Bankautomat irren wir später entlang der sowjetisch geprägten Straßenströme, tauchen immer wieder ab in ihre Unterwelten und lernen etwas wichtiges über uns selbst: Wir wissen nicht mehr, wie Orientierung ohne Internet funktioniert. In Gedanken bei meinen mobilen Daten sehne ich mir den EU-Beitritt der Ukraine herbei.

Ohne Geld, ohne Orientierung und etwas reizüberflutet treffen wir unsere lokale Führerin Helen, die mit Kontrastprogramm wartet: Wir verlassen die stressigen Hauptstraßen und laufen durch die Altstadt, wo sich die gegenüberliegenden Straßenseiten wieder ohne Fernglas erahnen lassen – erholsam. Statt ausladenden Fassaden tummeln sich hier Weltkulturerbe, Kunstexponate und junge Leute. Die Altstadt wirkt progressiv.

Mit einer rund 900 Jahre alten Kirche im Rücken blicken wir auf die andere Seite des Flusses, wo sich Plattenlandschaften auftürmen, „Sleeping Areas“, wie Helen es nennt. Kiew hat viele Gesichter.