Sind wir mehr?

Als unser Autor seine Freundin in Leipzig besucht hat, haben beide spontan beschlossen, zum #wirsindmehr-Konzert nach Chemnitz zu fahren. Eine Stunde DB-Regio später kommen sie an und laufen durch eine zerrissene Stadt

Als wir gegen vier Uhr in Chemnitz mit dem Zug ankommen, ist mein erster Eindruck: merkwürdig, es wirkt so leer. Chemnitz‘ Innenstadt ist weitläufig, die Straßen sind abgesperrt, keine Menschen sind zu sehen. Überall stehen Einsatzwagen der Polizei. Vom Bahnhof ziehen die Festivalbesucher in Richtung Innenstadt. Festivalbesucher? So sehen sie zumindest aus. Alles junge Menschen, viele im Studium, einige gehen wahrscheinlich noch zur Schule. Die Meisten haben ein Bier in der Hand oder sind auf dem Weg zum Supermarkt.

Wir bleiben nur kurz beim Konzertplatz. Es ist noch alles leer, die Bands spielen erst in einer Stunde. Zwischen dem Konzertplatz und dem Karl-Marx-Monument, wo vorher die rechte Kundgebung stattgefunden hatte, liegen nur 500 Meter. Und da ist noch etwas: der Tatort, an dem Daniel H. tödlich verwundet wurde. Dort ist alles voller Blumen. Nichts ist abgesperrt, vereinzelt stehen Wellenbrecher in der Gegend herum, ohne dass sie jemanden am Betreten hindern. Vielmehr helfen sie, die Menschen in Kategorien einzuteilen. An der einen Seite steht eine Gruppe Linker: Schwarz gekleidet, tätowiert, Piercings, wilde Frisuren, eine Antifa-Fahne. Zehn Meter weiter eine Gruppe Rechter: Schwarz gekleidet, tätowiert, Piercings, Kurzhaarfrisuren. Ein 16-jähriger läuft, in eine Deutschlandflagge gehüllt, an uns vorbei. Ich merke, wie ich jeden hier einsortiere, es gibt nur noch links und rechts.

Unschlüssig, was ich als Außenstehender am Tatort tuen soll, schaue ich ihn mir aus der Nähe an. Zu nah will ich nicht an die Blumen und Kerzen ran. Ich fühle mich als Tourist an einem Grab. Drei Männer versuchen, ein selbstgemaltes Transparent an dem nebenstehenden Denkmal zu befestigen.

Darauf steht: „Danke für das Konzert um den Hinrichter sowie dessen Unterstützer noch zu bestärken. -gemeinsam -gewaltfrei -verändern. Das hat Daniel gewollt! IHR vergesst worum es geht!“ Oben drauf stehen Hashtags: #Respektlos, #Beschämend, #Ehrenlos, #Ekelhaft. Es ist sehr still. Einige schauen sich das Transparent an, schütteln den Kopf oder machen ein Foto davon. Eine ältere Frau meint leise zu ihrem Begleiter, dass das doch ein rechtsextremer Spruch sei. Der Mann oben auf dem Denkmal ruft runter, dass wir nicht nur Fotos machen sollen, sondern doch mal sagen, was wir hiervon halten. Er schaut zu einem jüngeren Mädchen, sie hat einen Schulranzen auf und einen Ordner in der Hand. Sie findet das auch schlecht. Was schlecht, das Konzert? Ja, das Konzert und so. Die ältere Frau meldet sich zu Wort. Sie findet das Transparent schlecht. „Sie verhüllen da ein Denkmal.“ Das Denkmal ist eine Reliefwand mit dem Gedicht „Lob der Partei“ von Bertolt Brecht: „[…] Wir können irren und du kannst recht haben / Also trenne dich nicht von uns. Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg / Ohne uns ist er der falscheste. […]“

Auf der breiten Treppe vor dem Karl-Marx-Monument sitzen Grüppchen junger Leute, rauchen und reden. Wir setzen uns dazu, drehen Zigaretten und packen unser Lunchpaket aus. Ein Pärchen kommt vorbei und sieht sich nach einem freien Platz auf der Treppe um. Ich mustere sie. Sie sind vielleicht Anfang Zwanzig. Klamotten und Frisuren kann ich nicht ganz einordnen. Sie sehen durchschnittlich aus. Aber sie haben Pappschilder dabei. Als sie sich halb hinter uns setzen, schaue ich einige Mal verstohlen rüber. Auf dem einen Schild kann ich eine Deutschlandflagge erkennen. Auf der Rückseite steht: „Ich bin unzufrieden!“ Haben sich da gerade Rechte auf die Treppe gesetzt? Oder nehmen sie die rechten Parolen auf die Schippe? Soll ich sie nach den Schildern fragen, nur um herauszufinden, ob sie zum linken oder zum rechten Lager gehören?

In dem Moment fahren zwei Männer in weißen Maleroutfits auf Fahrrädern vorbei. Ich fange einen Gesprächsfetzen auf: „Die sollen mal arbeiten gehen.“ – „Jaja, Arbeit macht frei.“ Und schon sind sie weitergefahren. Ungläubig sitze ich da auf den Treppen.

Bevor das Konzert losgeht, wollen wir noch Bier kaufen. Schon komisch, aber was will man machen? Als wir endlich einen Galeria Kaufhof gefunden haben und an der Kasse stehen, erkennt eine Kundin hinter uns die Kassiererin. Sie schnacken etwas: „Du Arme hast ja hier ordentlich zu tun. Der Edeka hat auch schon um drei zugemacht.“ – „Jaja, ich verstehe die Welt auch nicht mehr.“

Beim Konzert wollen wir noch einen Freund treffen. Um ihn in der mittlerweile riesigen Menschenmenge zu finden, stellen wir uns auf Straßenbahnschienen vor dem Platz an eine elektronische Werbetafel. In regelmäßigen Abständen prostet uns von der Tafel aus Markus Söder mit einer Maß Bier in der Hand zu: „Deutschland ist nur so stark wegen Bayern.“ Na dann.

 

Foto: Stefan Strietzel