Toppen av ingenting

In einem Fitnessstudio irgendwo in Stockholm trainiert eine Frau ihren Bizeps. Auch beim Sport legt Nojet wert auf ihr Äußeres. Ihre Fingernägel glänzen Feuerrot, zahlreiche Goldringe umwinden ihre dünnen Finger. Nojet ist 68 Jahre alt, ihre Haut transparent wie Pergamentpapier. Darunter verbirgt sich eine Person, die niemals alt wird. Nojet ist ein Fels in der Brandung. Wäre da bloß nicht das verschuldete und heruntergekommene Mietshaus, dass sie kürzlich von ihrem Vater geerbt hat.

 

Toppen av ingenting (The Real Estate) hat Schweden nach neun Jahren wieder in den Wettbewerb gebracht. Und dem Film von Axel Petersén und Måns Månsson ist wohl eine der gewagtesten und skurrilsten Produktionen im diesjährigen Wettbewerb.

Der Film, einst als Dokumentation angelegt, zeigt eine andere Seite des gentrifizierten und lebenswerten Stockholms. Auch in der schwedischen Hauptstadt gibt es Ecken, die man als Tourist eher meidet. Genau in einer solchen Gegend aber erbt die gute situierte Nojet (Léonore Ekstrand) nach dem Tod ihres Vaters ein Mehrparteien-Mietshaus. Um sich ein Bild von der Immobilie zu machen, reist sie nach Jahren im Ausland zurück in ihre Heimatstadt. Bald wird klar: Was Nojet durchmacht, als sie das Haus im desolaten und verschuldeten Zustand vorfindet, ist der eigentliche Fokus von Toppen av ingenting. Der Film ist ein kurioses und intimes Porträt einer Frau, über deren Leben der Zuschauer faktisch wenig erfährt. Das muss man auch gar nicht, denn Nojets Charakter wird schon über ihre alltäglichen Taten fassbar. Sie ist ein Frau, die sich geistig noch irgendwo in ihren Zwanzigern rumtreibt und weder ihre Mitmenschen, noch sich selbst zu ernst nimmt. Das Haus jedoch lässt Nojets dickes Fell schnell ausdünnen. Ihr Bruder Olof, dem seine Stimme im Alkoholrausch abhanden gekommen ist, und dessen ebenso dubioser Sohn Chris, sind zwar Verwalter und Hausmeister des Gebäudes, vernachlässigen aber alle Aufgaben, die ihnen damit zufallen. Mietverträge setzen sie nicht auf, Gebäudeinstandhaltungen werden vertagt. All das, um einen extra Groschen für die eigene Tasche zu erwirtschaften. Das vielversprechende Erbe wird bald Nojets schlimmster Albtraum. Das Haus muss verkauft werden, und zwar so bald wie möglich. Aus früheren Zeiten kennt Nojet den Musikproduzenten Lex, der gerade mit einem Abbild Meister Proppers an seinem neuen Track arbeitet, der eine Koproduktion von Scooter und DJ Ötzi sein könnte. Als ein von Lex vermittelter potentieller Käufer des Hauses abspringt, eskaliert die Situation endgültig. Um Olof und Chris zu entkommen, flüchten Lex und Nojet auf’s Land. Einen Nervenzusammenbruch entkommt sie gerade noch. Doch spätestens, als sie freudestrahlend das Waffenarsenal des Landhauses im Praxistest auf die Probe stellt und im Internet nach Bombembausätzen sucht, wird klar: Die gelassene Dame vom Anfang des Film hat ihre Sinne längst nicht mehr beisammen.

Mit Toppen av ingenting haben Axel Petersén und Måns Månsson einen Film produziert, an dem sich die Geister scheiden. Nicht nur die Protagonistin bricht als Charakter alle Regeln, auch das schwedische Regisseurduo wagt sich etwas. Nahezu der gesamte Film ist in Close-Ups aufgenommen, was die Produktion szenographisch zu einem besonderen Werk macht. Sein visueller Detailreichtum lässt ihn im Vergleich zur Konkurrenz herausstechen. Wer jedoch nach einem Film mit einem gesellschaftlichen Sinn oder einer tiefgründigen Botschaft sucht, wird bei dem schwedischen Wettbewerbsfilm bis zum Abspann vergeblich warten.

Mit Nojet schaffen die Regisseure einen rundum herausfordernden Charakter, der bereits eigenständig für allerhand Aufregung und Unterhaltung sorgt. Sie ist eine so komplexe und vielseitige Protagonistin, die selbst die Darstellerin Léonore Ekstrand während der Dreharbeiten nie vollständig ergründen konnte. Indem sich Nojet sowohl physisch als auch charakterlich schamlos entblößt, rüttelt sie das Bild einer reifen Frau auf und eröffnet einen Dialog über ein häufig tabuisiertes Thema: das Altern. Mit ihrem makaberem Humor sorgt nicht nur Nojet, sondern auch ihre abgedrehten Kumpanen für heitere Stimmung im Kinosaal. Mit Toppen av ingenting wurde gezeigt, dass nicht jeder Film einen tiefgreifenden gesellschaftspolitischen Hintergrund braucht, um zu einem einzigartigen und unterhaltsamen Werk zu werden. Die Startnummer im Wettbewerb um den Goldenen Bären wurde zurecht erkämpft.

 

Foto: Wikimedia Commons, Jessica Weiller; Lizenz: CC0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bear_unsplash.jpg#/media/File:Bear_unsplash.jpg