Danke, wir sind schon frei!

Wer macht heute Revolution? Ist die Zeit der großen gesellschaftlichen Umbrüche nach 50 Jahren „68“ und 200 Jahren Karl Marx vorbei? Auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen der UnAuf Medientage 2018 stritten Diana Kinnert, Christopher Lauer und João Fidalgo darüber, ob – und wenn ja – wofür junge Studierende überhaupt noch auf die Straße gehen müssen. „Danke, wir sind schon frei! Müssen junge Leute heute noch anti sein?“

Die Aussicht von der Dachterrasse der BMW Foundation in Berlin-Mitte ist herrlich. Das Regierungsviertel strahlt in der Abendsonne, auf der Spree tuckern die Dampfer. Junge Mütter schieben Kinderwagen vor sich her, Jogger ziehen an ihnen vorbei. Der Vortragsraum im sechsten Stock des Stiftungsgebäudes ist rappelvoll. Wer keinen Platz auf den Stühlen findet, kann sich auf Sitzwürfeln niederlassen, auf denen die Milleniumsziele der UNO stehen.

Warum überhaupt kämpfen?

„Wogegen muss man heute eigentlich kämpfen?“, fragt Luisa Jabs, die den Abend moderiert. „Junge Leute müssen sich einfach aufregen!“ poltert Christopher Lauer, SPD-Mitglied und ehemaliger Piratenpolitiker, in die Runde. Er legt sein Smartphone aus der Hand und blickt kämpferisch ins Publikum: „Wir sind eine Generation, die es zum ersten Mal schlechter haben wird als unsere Eltern – genauer gesagt, wir haben eine Welt hinterlassen bekommen, die im Arsch ist! Der Golfstrom versiegt, und meine Verlobte bekommt trotz ihrer Qualifikation als Hautärztin keinen vernünftigen Job!“. Lauer widmet sich wieder seinem Smartphone, das Publikum schaut verdattert.

João Fidalgo, Finanzreferent im RefRat der HU und Mitglied des Akademischen Senats, pflichtet Lauer bei: „Wir müssen gegen alles sein!“ Ihm persönlich gehe es vielleicht relativ gut, aber es gebe viele Studierende, denen es schlecht gehe – BAföG, Wohngeldpauschale, Mietensteigerung.

Unaufgeregt meldet sich Diana Kinnert zu Wort. Die 27-jährige sprengt mit ihrem orange-schwarz gemusterten Oberteil und der schräg sitzenden Basecap die optischen Klischees eines CDU-Mitglieds. „Es gibt viele Veränderungen heutzutage, die durch die Digitalisierung, den demografischen Wandel und die zunehmende Urbanisierung immer schneller voranschreiten“,  sagt Kinnert. Und plädiert dafür, auf die Ängste der Menschen einzugehen, allerdings nicht, indem man gegen, sondern indem man für etwas kämpfe. Als Beispiel nennt sie die Bemühung der CDU, ein zukunftsfähiges Schulsystem aufzubauen.  Hier prustet Lauer auf, schaut kurz von seinem Handy auf und ruft: „Das macht die CDU doch nie im Leben!“

Fehlendes Engagement

Wenn denn alles so schlimm sei, wieso engagierten sich dann so wenige junge Leute in der Politik, will Jabs von den Diskutant*innen wissen. Fidalgo räumt ein, dass die Wahlbeteiligung für StuPa-Wahlen bei unter zehn Prozent liege, will darin aber keine allgemeine Politikverdrossenheit sehen. Vielmehr sei der fehlende Protest der Studis auf den hohen Druck zurückzuführen, das Studium schnell durchzuziehen. Außerdem würden sich ja viele in Fachschaften und auf anderen basisdemokratischen Ebenen engagieren.

Lauer holt zum Rundumschlag aus. Das fehlende Engagement sieht er in der gesamten Gesellschaft, nicht nur bei der Jugend. Das Sicherheitsempfinden der Menschen sei einfach zu groß heutzutage. „Es herrscht eine Wohlstandsverwahrlosung in Deutschland. Viele sitzen auf Ihrem Reichtum und wissen nicht, was sie machen sollen. Die sagen aber nicht: Fuck, Kapitalismus ist scheiße! Immer mehr kaufen ist auch scheiße!“ Um ihren Lebensentwurf nicht schlechtzureden, würden viele ihre Frustration auf Geflüchtete projizieren, obwohl es „drei Millionen leerstehende Wohnungen in Deutschland“ gebe. Man lenke sich lieber mit dem Märchen von der Erhaltung einer „christlich-jüdischen Kultur“ ab.

Lauer zeichnet ein Bild der Gesellschaft, deren Mitglieder gelähmt seien. Kaum einer setze sich für eine gerechtere Welt ein, da es den Menschen schlicht an Solidarität mangele: „Unsere Gesellschaft prägt uns derart, dass wir keine Solidarität mehr kennen. Ob wir zusammen als Gesellschaft Erfolg haben? Zählt nicht mehr. Hauptsache, man kommt selber durch und ist besser als der andere. Hier herrscht ein enormer Konkurrenzdruck!“

Am Ball bleiben

Aus Diana Kinnerts Sicht qualifiziert eine CDU-Mitgliedschaft für einen produktiven Umgang mit dem Thema „gelähmte Gesellschaft“. Sie definiert Konservativismus als eine Haltung, den Dingen weder hysterisch-panisch noch „megaeuphorisch“ zu begegnen. Für sie zählt bei einer Partei die Gestaltungsmacht. Für Kinnert ist die CDU ein Apparat, der ihr als Bürgerin den größten Einfluss bietet, um sich zu engagieren. Fidalgo blickt entrüstet, als er Kinnert kritisiert: „Das ist doch inhaltsleer! Du vertrittst Positionen, die nicht denen der CDU entsprechen!“

Merkelgleich referiert Kinnert seelenruhig weiter. Selbstverständlich müssten Parteien sich modernisieren, es müsse neue Partizipationsformen geben, die über das Delegiertensystem hinaus neue themenspezifische Gremien anbieten, wo sich alle Interessierten engagieren können. Andererseits ist Kinnert „genervt“ von der Gratismentalität vieler junger Menschen: „Anstatt sich in Empörung zu flüchten, muss man am Ball bleiben und auch mal in politischen Gremien hocken, auf die man keinen Bock hat“. Kinnert fragt sich außerdem, warum es immer einfacher sei, gegen etwas auf die Straße zu gehen, als für etwas. „Wo bleiben beispielsweise das Engagement und der Protest für ein starkes Europa?“, fragt sie in die Runde.  

Natürlich müsse man für Europa auf die Straße gehen, ruft Lauer. „Europa wird hauptsächlich auf bürokratische Kleinigkeiten reduziert. Vielleicht brauchen wir es einfach, dass alle 100 Jahre die Faschos drüberbügeln, bevor wir aufwachen.“

Der Kampf gegen die Rechten muss aufgenommen werden, da sind sich Lauer und Fidalgo einig. Lauers Erfahrung mit AfD-Politiker*innen sei, dass sie Eskalation wollten. Sie seien frustriert mit sich selbst. Das Problem seien aber nicht die Nazis, sondern die Leute, die nichts gegen sie sagten.

Deswegen, so Lauer, müssten wir uns eigentlich alle in Parteien engagieren. Aber als er gesehen habe, wie es in der SPD-Basis zugegangen sei, habe er einen „Kotzkrampf“ bekommen.  Niemand nehme die Partei mehr ernst. „Es ist ein Widerspruch, den ich lebe, ich weiß, aber ich brenne für die Themen! Der Ort, wo man was verändern kann, ist das Parlament. Es ist falsch, wenn von Politikern der Eindruck erweckt wird, dass nationale Parlamente nichts gegen Globalisierung tun können“, so Lauer.

Welche Utopie?

Aus dem Publikum kommt die Frage nach den persönlichen Utopien der Gäste. Für Kinnert besteht die Utopie in einem solidarischen und fairen Umgang zwischen den Generationen sowie der Stärkung Europas. Allerdings seien wir in unserer eigenen Gesellschaft in unterschiedlichen Epochen unterwegs, die eine Utopie könne es daher nicht geben.

Das sieht Fidalgo anders und zitiert Marx: „Der Mensch solle das höchste Wesen für den Menschen sein und alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Zum Schluss schimpft Lauer: „Wir müssen uns der kapitalistischen Verwertungslogik entziehen!“ Unsere Gesellschaft brauche radikale neue Konzepte von Arbeit und Solidarität:  Technologien müssten beispielsweise zum Wohle aller arbeiten. Als größtes Problem sieht Lauer: „Wir können uns unser Leben nicht erhalten, wenn wir mit dem Kapitalismus weitermachen.“

Nach der Diskussion verstehen sich alle wieder ganz gut, man tut sich gütlich an Bier und Häppchen, die der Veranstalter bereitstellt. Die Aussicht ist immer noch schön, die Brezeln schmecken gut. Alle sind in angeregte Pläusche vertieft, Lauer, Kinnert und Fidalgo mischen sich unter die Leute.

Entweder geht es uns zu gut, um zu merken, dass alles gewaltig schiefläuft, oder es geht uns – einfach gut.

 

Illustration: Victoria Grossardt